Egon Schiele – ein Maler grotesker Posen, inspiriert durch Fotos von Dystonie und Hysterie
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Von Dr. Angela Speth
Egon Schiele ist ein weltberühmter expressionistischer Maler, der die Kunstszene im Wien des frühen 20. Jahrhunderts beherrschte. Aus medizinischer Sicht interessant sind seine Porträts und Selbstporträts in verrenkten Posen, die an Dystonien erinnern. Sein radikaler Bruch mit ästhetischen Normen auch des Jugendstils, die explizite Zurschaustellung von Sexualität und sein freizügiger Lebensstil stießen vielfach auf Ablehnung. Populär wurde deshalb die Vorstellung von einem Geächteten, der schnell lebte und jung starb. Wahr ist jedoch, dass pathologische, auch „hysterische“ Körper in dieser Ära Siegmund Freuds einen voyeuristischen Reiz besaßen. Insofern traf Schiele genau den Geschmack seiner Zeit, was seinem künstlerischen und kommerziellen Erfolg beflügelt hat.
Leben und Werk Egon Schieles sind daher auch unter psychiatrischen und medizinhistorischen Aspekten aufschlussreich. Prof. Dr. Frank J. Erbguth, mittlerweile emeritierter Ärztlicher Leiter der Klinik für Neurologie in Nürnberg, hat sie in einem Beitrag vorgestellt.
Schieles Anfänge
Schiele wurde 1890 im Tulln an der Donau geboren. Seine Lehrer, die sein Talent erkannten, vermittelten ihn 1906 an die Kunstgewerbeschule in Wien, doch noch im selben Jahr wechselte er an die traditionsreichere Kunstakademie. Dort allerdings frustrierten ihn schon bald die konservativen Ansichten seines Professors Christian Griepenkerl, den umgekehrt Schieles Rechthaberei derart ärgerte, dass er einmal höhnte: „Dich hat der Teufel in meine Klasse geschissen!“
So verließ Schiele die Akademie bereits nach zwei Jahren und gründete seine eigene „Neukunstgruppe“. Befreit von den früheren Konventionen begann er, sich mit Sexualität auseinanderzusetzen und sie in einer Eindeutigkeit darzustellen, die vielfach Anstoß erregte. Heute ginge man übrigens noch strenger mit ihm ins Gericht, wenn auch etwas aus anderen Gründen: Seine Aktbilder sehr junger Mädchen würden als Kinderpornografie geahndet, weil ja schon die Aufforderung zum sexuellen Posieren als Missbrauch gilt.
Der Wandel zum Experten des Hässlichen
Gleichzeitig fand Schiele großzügige Mentoren, vor allem Gustav Klimt, der seine Zeichnungen kaufte und in die Kunstbewegung der Secession einführte. 1909 erzielte er einen ersten Erfolg in der „Großen Wiener Kunstausstellung“, wo auch Werke so renommierter Maler wie Edvard Munch oder Vincent van Gogh gezeigt wurden. 1910 brach das Enfant terrible endgültig mit der eleganten Dekorationsmalerei des Jugendstil und wandte sich dem Expressionismus zu. Er wandelte sich, um es unbeschönigt zu sagen, zu einem Experten des Hässlichen.
1911 lernte er die 17-jährige Valerie (Wally) Neuzil kennen, die für einige seiner eindrucksvollsten Gemälde posierte. Weil ihnen das Wiener Milieu zunehmend klaustrophobisch erschien, flohen sie zusammen in die Kleinstadt Krumau, doch dort stieß ihre wilde Ehe auf solches Missfallen, dass man sie vertrieb.
Gefängnis-Strafe wegen erotischer Skizzen
Noch widriger erging es den beiden in Neulengbach nahe Wien, wo sie sich anschließend niederließen. Im April 1912 verhaftete die Polizei Schiele wegen Verführung einer Minderjährigen und beschlagnahmte über hundert als pornografisch verdächtigte Zeichnungen. Der Richter verurteilte ihn schließlich zu drei Wochen Gefängnis, allerdings nur wegen seiner erotischen Skizzen, und verbrannte eine davon über einer Kerze. Wie sehr ihn die Misere seiner Zelle bedrückte, hat der Sträfling auf einer Serie von zwölf Gemälden überliefert.
Zurück in Wien, gelang ihm das Come-back: 1913 veranstaltete eine Münchner Galerie eine erste Einzelausstellung, eine weitere fand 1914 in Paris statt. Zudem veröffentlichte Schiele in der Zeitschrift „Die Fackel“ einige Gedichte und im Berliner Journal „Die Aktion“ theoretische und literarische Texte.
1915 dann die bürgerliche Hochzeit – mit der aus protestantischer Familie stammenden Edith Harms. Drei Tage später wurde Schiele zum Militär einberufen, brauchte dort aber lediglich Wachdienste zu leisten, so dass er währenddessen malen konnte.
Ein triumphaler Erfolg wurde für ihn die Ausstellung der Wiener Secession 1918, wo fünfzig seiner Werke vertreten waren. Sein Ausstellungsplakat erinnert an das letzte Abendmahl, freilich mit einer Provokation: einem Porträt seiner selbst da, wo sonst Christus sitzt.
Tod durch Spanische Grippe
Nach dem Tod Klimts im selben Jahr stieg Schiele zusammen mit Oskar Kokoschka zum führenden Vertreter der expressionistischen Avantgarde Wiens auf, allerdings nicht für lange. Denn die Spanische Grippe, an der allein in Europa 20 Millionen Menschen starben, erreichte die österreichische Metropole. Am 28. Oktober 1918 erlag Edith, im sechsten Monat schwanger, der Krankheit, Schiele am 31. Oktober. In den drei Tagen zwischen ihrem und seinem Tod fertigte er einige Skizzen seiner Frau im Krankenbett – es wurden seine letzten Arbeiten. Sein Gesamtwerk umfasst 245 Gemälde und etwa 2.000 Zeichnungen, Gouachen und Aquarelle, die sich gut an anspruchsvolle Sammler verkauften, auch die Ausstellungen erwiesen sich als sehr lukrativ.
Schieles Werk und die Medizin
Kennzeichnend für seine Porträts und Selbstporträts sind verdrehte, groteske Körperformen, wie sie bei Dystonien auftreten, vom Gehirn ausgehenden Störungen also, die durch Muskelverkrampfungen zu eigentümlichen Körperhaltungen oder unkontrollierten Bewegungen führen. Auch auf einer Fotografie von 1910 neigt Schiele den Kopf, als hätte er einen Schiefhals, und sogar die letzte Aufnahme von ihm im Sterbebett zeigt ihn in einer Position, die arrangiert wirkt: die linke Hand hinter dem Kopf, den rechten Arm über der Brust. So wurde spekuliert, ob er an einer Dystonie litt, doch fehlen dafür jegliche Hinweise.
Deshalb sehen Kenner die bizarren Haltungen, die Inszenierung des pathologischen Körpers als eine Strategie der Moderne, als Merkmal eines expressionistischen Formenstils. Inspiriert wird diese Kunst von einer medizinisch geprägten Wahrnehmung, die Anfang des 20. Jahrhunderts en vogue war.
So wurden neurologische und psychiatrische Erkrankungen breit diskutiert. Beispielsweise eröffnete 1898 eine Ausstellung über Geisteskranke, wo die fortschrittlichen Therapien den traditionellen gegenübergestellt wurden, etwa Modelle von Beobachtungsstationen kontra gefesselte Wachsfiguren.
Die Ära Siegmund Freuds
Außerdem kursierten Abbildungen verrenkter Körper in ganz Europa, zumal in Wien, wo sie bei Intellektuellen und Künstlern Aufmerksamkeit erregten. Exemplarisch ist die Zeitschrift „Iconographie Photographique de la Salpêtrière“, die um 1880 am Pariser Krankenhaus für Nervenkrankheiten erschien. Gezeigt wurden Formen der Dystonie und auch der Hysterie, die man besonders Frauen zuschrieb, so dass man die Symptome effekthascherisch an ihrem Körper demonstrieren konnte.
Die Fotografien hielten die Patientinnen inmitten von Krämpfen in ihren Hospitalbetten fest, etwa mit Kontrakturen der Gliedmaßen oder mit ausgebreiteten Armen wie gekreuzigt, „attitudes passionnelles“ genannt. Diese Fotos bedienten den voyeuristischen Blick, zumal es schien, als ob sich die Frauen - durch Halluzinationen, Hypnose, Inhalieren von Dämpfen oder Pressen „hystereogener“ Zonen – aus den zivilisatorischen Fesseln befreien würden.
Es war ja die Ära Siegmund Freuds und seiner psychoanalytischen Konzepte, wie dem der „Konversion“, wonach die eigenartigen Posen der Hysterie psychische Konflikte widerspiegeln. Schieles Selbstporträts – er war sich selbst sein häufigstes Modell - werden ähnlich interpretiert: Sie entspringen weniger der Betrachtung der eigenen Seele, sondern der - oft übersteigerten - Wendung seiner Gefühle nach außen.
Die „Iconographie Photographique“ war so erfolgreich, dass eine Nachfolgerin erschien mit dem Titel „Nouvelle Iconographie de la Salpêtrière: Clinique des Maladies du Système Nerveux“. Diesmal ging es um neurologische Erkrankungen allgemein, und zwar überwiegend bei Männern. Die Fotografien von braunen Hautwucherungen und Wirbelsäulendeformationen signalisieren eine Abkehr von der dramatischen Vergeschlechtlichung der Hysterie, vielmehr liegt der Schwerpunkt auf den Extremen des Körpers im Schmerz.
Es existieren nicht nur Hinweise, das Schiele diese Magazine kannte, er hatte zudem von einem befreundeten Arzt die Erlaubnis erhalten, Patientinnen der gynäkologischen Universitätsklinik zu zeichnen. Das geschah gerade in jenem Jahr 1910, das den Wendepunkt weg vom Jugendstil hin zur Darstellung des malträtierten Menschen markiert.
Dazu passen weitere Stilelemente: Teile einer Figur werden vom Bildrand abgeschnitten, zum Beispiel der Kopf kurz über der Stirn. Oder Schiele verfremdet seinen Körper im Selbstporträt über die Verzerrungen hinaus noch dadurch, dass er sich Masken aufsetzt, wie Mönch, Prophet oder Heiliger. Oder er stört die Kommunikation: Einerseits nimmt er über den Blick Kontakt zum Betrachter auf und stößt ihn andererseits durch eine Grimasse oder eine abweisende Geste von sich weg.
Überhaupt bilden Hände oft den Mittelpunkt in Schieles Gemälden. Ikonografische Parallelen gibt es zu den Nahaufnahmen missgestalteter Hände - Titel „Macrodactylie“ - in den Zeitschriften der Salpêtrière. Fachleute sehen diese Publikationen daher als einen „Steinbruch von Motiven“, die nicht Rationalität und Kontrolle, sondern die Kraft der Emotionen symbolisieren.
Die Zumutungen des modernen Lebens
Doch die Zerrbilder dienen offenbar nicht ausschließlich der Artikulation des traumatisierten Individuums. Eine Forscherin argumentiert, Schieles radikaler Bruch mit der traditionellen Ästhetik sei auch ein Schachzug gewesen, um den Kunstmarkt zu erobern und hohe Preise zu erzielen. Denn er erreichte damit Mäzene, die der Sezession überdrüssig waren und junge Künstler fördern wollten, die das „neue Blut“ repräsentierten. Auch Schieles Kollegen und Konkurrenten wie Oskar Kokoschka und Max Oppenheimer nutzten ähnliche Strategien. Sie alle hatten erkannt, dass Grazie und Anmut sich nicht eignen, um die Zumutungen des modernen Lebens deutlich zu machen.
Dieser Volltext ist leider reserviert für Angehöriger medizinischer Fachkreise
Sie haben die Maximalzahl an Artikeln für unregistrierte besucher erreicht
Kostenfreier Zugang Nur für Angehörige medizinischer Fachkreise