Dissoziative Identitätsstörung: Modeerscheinung oder Tatsache?

  • Stéphanie Lavaud
  • Medizinische Nachrichten
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Beim Encéphale Congress 2023 wurde eine Sitzung der dissoziativen Identitätsstörung (DID) gewidmet. Dies ist eine Erkrankung, die einige Faszination ausübt und in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen dargestellt wurde. Wenngleich sie an den Kinokassen und bei den Einschaltquoten der Schlüssel zum Erfolg sein mag, ist die DID innerhalb der psychiatrischen Gemeinschaft nach wie vor ein kontrovers diskutiertes Thema. Tatsächlich ergab eine Umfrage unter 800 französischen Psychiatern, dass 51 % entweder Zweifel an der Existenz der Erkrankung haben – die zumindest im Internet unter Jugendlichen immer häufiger vorkommt – oder gar nicht an die Existenz der DID glauben. Also Psychiatrie oder Fantasie? Dies ist die Frage, die im Titel der Sitzung gestellt wurde. Unabhängig davon, in welchen Bereich dieses Phänomen der multiplen Identitäten fällt, ist klar, dass die DID einen Teil des breiteren Phänomens der „plurals culture“ darstellt, die seit einigen Jahren unter Jugendlichen zu beobachten ist.

Trauma im Kindesalter

Die DID, früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt, ist in der fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) aufgeführt. Die DID ist durch das Vorhandensein von mehr als zwei Persönlichkeiten innerhalb einer einzelnen Person gekennzeichnet. Dies führt zu Situationen, in denen die Person zwischen ihren verschiedenen Identitäten (auch Selbstzustände oder Teile genannt) „umschaltet“.

Personen mit DID weisen in Bezug auf erlebte traumatische Ereignisse sowie Elemente des täglichen Lebens häufig Amnesieepisoden auf. Ein Video, das zu Beginn der Sitzung abgespielt wurde, zeigte Dr. Coraline Hingray, eine Psychiaterin am University Hospital of Nancy, in einem Interview mit einer jungen Frau namens Maïlé Onfray. 2017 wurde bei Onfray, die in einer Sekte aufwuchs, eine DID und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Sie definierte ihre dissoziativen Teile als vollständig voneinander getrennt, wobei jeder seine eigene Welt und eigene Erfahrungen hat. Sie wollte jedoch nicht alle aufzählen oder auflisten, weil „das bedeuten würde, sie noch mehr zu separieren, obwohl sie hofft, sie wiedervereinigen zu können“.

Obwohl sie angab, tagsüber ständig zwischen diesen Identitäten zu wechseln, sagte sie, dass diese Veränderungen – zum Beispiel ihrer Stimme oder ihrer Sprache – „etwas Subtiles und keine Show“ seien. Onfray erwähnte Episoden, in denen sie nicht über ihre üblichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt – Kinder unterrichten, einen Computer benutzen – um diese dann wieder zu erlangen, ohne sich daran zu erinnern, was sie in diesem Moment getan hatte. Eine DID ist sehr oft mit einem überwältigenden Kindheitstrauma assoziiert – wie z. B. im Fall von Onfray mit psychologischer, körperlicher und sexueller Gewalt innerhalb der Sekte. Für den DID-Patienten führt dies zu „sehr viel Leid und Einsamkeit“.

Eine umstrittene Erkrankung

Von Alfred Hitchcocks Psycho bis zu M. Night Shyamalans Split - Hollywood ist schon lange von der DID fasziniert. In den letzten Jahren wurde von jungen Erwachsenen in den sozialen Medien häufig über derartige Störungen berichtet. Aber die wissenschaftliche Gemeinschaft ist nach wie vor nicht überzeugt.

Die Ergebnisse mehrerer Studien weisen eindeutig darauf hin, dass diese Erkrankung konkrete Merkmale aufweist. Sie legen außerdem nahe, dass bis zu 1 % der Allgemeinbevölkerung betroffen sein könnten. Psychiater stellen jedoch infrage, dass es die DID überhaupt gibt, und betrachten das Phänomen als Modeerscheinung, die in den letzten Jahren so stark zugenommen hat, dass man sich fragt, ob es sich dabei um eine „Epidemie“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie handelt.

Was ist mit französischen Psychiatern? Welcher Seite gehören sie an? Sind sie auf der Seite der Skeptiker oder der Überzeugten? Um dies herauszufinden, befragte Hingray 800 von ihnen. Ihre Antworten werden in der Zeitschrift Encéphale veröffentlicht. Hier sind in der Zwischenzeit die wichtigsten Erkenntnisse.

Zunächst einmal, sagte Hingray, kategorisierten französische Psychiater die DID unter den Patienten, die sie behandelt haben, als „seltene Diagnose“. Tatsächlich gaben zwei Drittel der Ärzte an, dass sie noch nie einen DID-Patienten behandelt haben. 24 % derjenigen, die bereits DID-Patienten gesehen haben, gaben an, dass sie zwischen einem und vier dieser Patienten behandelt hätten. Fast die Hälfte der Befragten (48 %) gab an, dass die Patienten, die sie im Laufe des Jahres behandelt hatten, diese Diagnose selbst gestellt hatten.

Glauben Psychiater, dass sie im Großen und Ganzen für dissoziative Störungen ausgebildet wurden? Die Antwort von 61 % der Psychiater lautete „Nein“. Von denjenigen, die diese Frage bejahten, gaben 37 % an, dass sie Schritte unternommen haben, um sich selbst weiterzubilden, z. B. durch den Besuch von Kongressen oder die Lektüre von Fachliteratur zu diesem Thema.

Auf die Frage nach der Epidemiologie dieser Erkrankung schätzten die meisten Psychiater (67 %) die Prävalenz auf 0,15 %. Etwa 32 % gaben an, dass ihrer Meinung nach 1,5 % der Bevölkerung eine DID aufwiesen. Laut einem Artikel aus dem Jahr 2018 von Richard J. Loewenstein liegt die tatsächliche Prävalenz zwischen 1 % und 1,5 %.

Ist die DID real?

Die Umfrage befragte die Psychiater nach ihren Kenntnissen über die DID. Die Mehrheit war mit der DSM-5-Definition vertraut und war sich bewusst, dass Traumata die zugrundeliegende Ätiologie darstellen. Darüber hinaus wussten sie, dass eine Psychotherapie die empfohlene Erstlinienbehandlung darstellt.

Während die meisten Ärzte sagen, dass sie sich für die Krankheit interessieren, wird es etwas komplizierter, wenn sie gefragt werden, ob sie glauben, dass die Erkrankung existiert. „Hier sind die Meinungen ziemlich gleichmäßig aufgeteilt, 50:50. Das heißt, 51 % bezweifeln sehr stark, dass die DID existiert, oder glauben einfach nicht, dass sie existiert“, erklärte Hingray.

Ist sie also etwas, das von den Medien geschaffen wurde? Erneut ist die Meinung der Psychiater geteilt. „Sie halten weiterhin daran fest, dass diese Erkrankung infolge dessen aufgetreten ist, was die Menschen in Filmen wie Split, in den Massenmedien und auf TikTok sehen. Dennoch stellt die Tatsache, dass eine überwältigende Mehrheit von 80 % der Befragten in Betracht zieht, dass die Patienten diese nicht vortäuschen oder vorspielen, eine deutliche Bestätigung der Existenz der Erkrankung dar“.

Kann diese Erkrankung mit einer anderen verwechselt werden? Absolut. Während sich die Psychiater einerseits über die Ähnlichkeit der DID mit der Schizophrenie uneinig sind, sind sie sich andererseits jedoch über die Ähnlichkeit der DID mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) eher sicher.

Abschließend erklärte Hingray, sie sei der Ansicht, dass, wie Goethe es ausdrückte, „man nur sieht, was man weiß“. Sie räumte ein, dass bei der DID der Chamäleon-Effekt mit im Spiel ist. Denn die Dissoziation stellt einen Schutzmechanismus dar: sie ermöglicht der Person ein Vermeidungsverhalten. Zudem kann sie alle möglichen Formen annehmen (z. B. Panikstörungen, Zwangsstörungen, behandlungsresistente Depression, atypische Schizophrenie).

Vor diesem Hintergrund forderte Hingray ihre Kollegen auf, auf atypische psychiatrische Symptome zu achten. Und da sie selbst glaubt, dass die DID real ist, ermutigte sie ihre Kollegen, sich mit der Störung zu befassen, sich darüber zu informieren. Je mehr sie über die DID wissen, desto besser können sie die Symptome erkennen und diese entsprechend behandeln.

Die plurale Kultur

Dr. Julie Rolling ist Kinderpsychiaterin an den Universitätskliniken von Straßburg. In ihrer Kongress-Präsentation: „DID: eine Epidemie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“, gab sie einen Überblick über die Literatur zum Phänomen des Vorhandenseins multipler Identitäten. Tiefer in das Thema eintauchend befasste sie sich mit der Einstellung von Teenagern gegenüber DID und im weiteren Sinne dem Phänomen der multiplen Persönlichkeit. In den letzten Jahren ist diese Kultur gewachsen, und das erwähnte Phänomen hat vor allem Teenager in einen „Rausch“ versetzt.

„Plurals“ ist der englische nicht-medizinische Begriff, mit dem Menschen bezeichnet werden, die das charakteristische Merkmal haben, mehrere „Persönlichkeiten“ zu besitzen, ohne an einer DID erkrankt zu sein. „Diese Personen stellen ihre Diagnose mit einer höheren Wahrscheinlichkeit selbst. Sie verfügen über eine sehr detailreiche innere Welt, und die Beziehungen zwischen den ‚Teilen’ sind etwas, das Plurals als beruhigend empfinden“, erklärte Rolling. Sie fragte sich, ob es sein könnte, dass Teenager, eben weil sie Teenager sind, besonders empfänglich für dieses „Plurals“-Phänomen sind. In der Tat scheint dieses Phänomen eine neue globalisierte Online-Kultur zu sein, deren Lebensphilosophie „die Pluralität von Identitäten als normale psychologische Präferenz“ ist und die mit einer eigenen Sprache (z. B. „funktionale Vielfalt“ und „nichtmenschliche Identitäten“), einer sozialen Gruppe (hauptsächlich in den sozialen Medien) und, für einige, mit einer Aktivismus umfassenden politischen Dimension einhergeht.

Teenager könnten von dem „Wunsch nach Originalität“ angezogen werden, der mit dieser neuen Kultur verbunden ist. „Dieses Konzept dissoziativer „Teile“ würde [ihnen] eine Erklärung für die Identitätsverwirrung, die emotionalen Konflikte und die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten liefern, die sie möglicherweise erleben. All diese Dinge würden dann [für sie] Sinn machen“, schlug sie vor. „Eine DID-Diagnose könnte dann Struktur in das innere Chaos bringen“.

Rolling meint, dass die DID auch einen gewissen Reiz für die Art von Teenagern ausüben könnte, die die gegenseitige Hilfe in den sozialen Medien und das dadurch erzeugte Interesse gut gebrauchen könnten. Oder sogar für die Art von Teenagern, die als DID-Patienten einen neuen Status erlangen würden, der sie zu Experten für DID macht. „Es gibt so viele wichtige Themen – als Identität anerkannt zu werden, narzisstische Selbstdarstellung – die Reaktionen auf die psychologischen Veränderungen im Jugendalter darstellen können“, erklärt sie.

Schließlich erwähnte Rolling die Ähnlichkeit dieser Erkrankung mit einer neuen Diagnose: Realitätsverschiebung (reality shifting, RS), eine neu aufkommende Online-Tagträumerei-Kultur, die während der COVID-Pandemie Einzug erhielt. RS ist „die Erfahrung, in der Lage zu sein, die eigenen physischen Grenzen zu überwinden und alternative, meist fiktive Universen zu besuchen“. Rolling schloss mit der Feststellung, dass die DID – eine komplexe Erkrankung – viele Fragen aufwirft. Insbesondere „die Relevanz der Diagnose in einer wichtigen Phase der Entwicklung“. Sie fügte jedoch, allgemeiner gesagt, hinzu: „Dies wirft die Frage auf, welchen Einfluss Online-Communities und soziale Medien auf die Diagnose jüngerer Patienten haben“.

Dieser Artikel wurde aus der französischen Ausgabe von Medscape übersetzt.

Er wurde ursprünglich auf medscape.com veröffentlicht.