Dieses Jahr Delta, nächstes Jahr Omikron…und dann?

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Im Diskurs
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Die USA und China gelten landläufig als Supermächte. Doch die wahren Herrscher dieser Welt heißen seit 2020 nicht Joe Biden, auch nicht Xi Jinping oder gar Wladimir Putin. Der wahre Herrscher ist ein Winzling mit einem Durchmesser von weniger als 150 nm und dem etwas langen Namen: „Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“, kurz SARS-CoV-2. 

Dieses RNA-Virus dominiert seit Monaten Terminkalender und Konferenzen vieler Mächtiger in Politik und Wissenschaft, es lässt Börsenkurse steigen und fallen, bestimmt, ob wir Freunde besuchen oder in die Oper gehen können; und als wäre das alles nicht schon schlimm genug: Der Winzling tötet; inzwischen sind schon mehr Menschen durch das Virus gestorben als in vielen Kriegen. 

Delta - die gefährliche Variante des Jahres 2021

Offiziell begann das Unheil im vergangenen Jahr; bereits die ersten Monate waren katastrophal. Die Bilder aus Bergamo und New York werden vielen Menschen lange in Erinnerung bleiben. Noch düsterer wurde es, als 2021 Delta auftauchte, die seitdem vorherrschende Variante. Denn Delta ist deutlich gefährlicher als die bisherigen Varianten. Die neue Variante sei so kontagiös wie das Windpocken-Virus, verursache häufiger als alle früheren Varianten Durchbruchsinfektion und führe zu schwereren Krankheitsverläufen, erklärten zum Beispiel im Juli dieses Jahres die Centers of Disease Control and Prevention“ in Atlanta. 

Das Risiko für eine Krankenhauseinweisung sei bei einer Infektion mit der Delta-Variante des Coronavirus etwa doppelt so hoch wie bei der Alpha-Variante, berichteten auch britische Wissenschaftler im Fachjournal „Lancet Infectious Diseases“Die Delta-Variante führe zu etlichen Durchbruchsinfektionen bei Geimpften, meldeten andere Wissenschaftler.

Mögliche Gründe für Reinfektionen trotz Impfung: Ein schwaches Immunsystem, Alter (Immunoseneszenz), verminderte Impfstoff-Wirksamkeit, nachlassende Impfwirkung. Aktuellen Daten aus Israel zufolge steigt das Infektionsrisiko sogar schon 90 Tage nach der 2. Impfung mit Comirnaty (Odds Ratio 2,37 - 282).

Reinfektionen trotz Impfung zwingen zum Boostern

Aufgrund der nachlassenden Wirkung der Impfung haben mehrere Staaten Auffrischungsimpfungen gestartet. Dass solche Booster effektiv und sicher sind, haben mehrere Studien gezeigt. So ergab bereits eine Mitte September publizierte Auswertung von Daten in Israel, dass die Impfung mit einer 3. Dosis des Impfstoffs von Biontech/Pfizer bei über 60 Jahren Menschen die Zahl der bestätigten COVID-19-Erkrankungen um mehr als das 10-fache und die Zahl der schweren Erkrankungen um fast das 20-fache gesenkt hatte. 

Zu dieser Zeit war es allerdings noch nicht Konsens, dass eine allgemeine Boosterung wirklich sinnvoll sei. Zur Zurückhaltung rief zum Beispiel eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, darunter auch Vertreter der WHO und der FDA, im Fachjournal „The Lancet“ auf. Nach Ansicht der Autoren sei eine Auffrischimpfung für die Allgemeinbevölkerung weder erforderlich noch angemessen, da die Wirksamkeit des Impfstoffs zur Verhinderung schwerer COVID-19-Verläufe selbst bei der Delta-Variante sehr hoch ist.

Inzwischen gibt es aber keine ernsthaften Zweifel mehr daran, dass Boostern sogar eine conditio sine qua non im Kampf gegen die Pandemie ist, zum einen, weil es immer mehr Durchbruchsinfektionen gibt, die auch zu schweren Krankheitsverläufen führen, zum anderen, weil mit Omikron eine neue Virus-Variante aufgetaucht ist, die aufgrund ihrer besonders hohen Infektiösität schon bald Delta als dominierende Variante in vielen Ländern ablösen wird. Zudem bekräftigen aktuelle Real-World-Daten erneut, wie effektiv die Boosterung ist, in diesem Fall mit der Vakzine von Biontech/Pfizer. Ausserdem ist die Boosterung sicher, ernsthafte unerwünschte Nebenwirkungen sind bisherigem Wissen nach selten, wie etwa Interims-Daten belegen, die Pfizer/Biontech bei einem Treffen des APIC (Advisory Committee on Immunization, Centers for Disease Control and Prevention) in Atlanta präsentiert hat. Seit einigen Wochen wird nun auch in Deutschland geboostert, was das Zeug hält, was wohl auch mit der Empfehlung der STIKO im November zu tun hat, allen Personen ab 18 Jahren eine Auffrischimpfung mit einem mRNA-Impfstoff anzubieten.

Sicherheitsbedenken: im Fokus Herzmuskelentzündungen

Ähnlich wie 2020 seltene zerebrale Blutungen im Zusammenhang mit der Impfung haben auch 2021 Meldungen zu unerwarteten Komplikationen nach der Impfung Experten und Bevölkerung beunruhigt. Die Rede ist von Herzmuskelentzündungen, insbesondere nach Impfung mit der mRNA-Vakzine von Moderna. 

Nachdem Daten einer Registerstudie aus Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden nahegelegt hatten, dass das Risiko einer Peri-/Myokarditis unter der Moderna-Vakzine höher sein könnte als unter dem Impfstoff von Biontech/Pfizer, wurden in nordischen Ländern Anfang Oktober Anwendungsbeschränkungen für den Moderna-Impfstoff ausgesprochen. Ein erhöhtes Myokarditis-Risiko nach Impfung mit der Moderna-Vakzine zeigten auch Daten aus Frankreich.

Wie in anderen Untersuchungen waren vor allem junge Männer betroffen, wobei auch hier das Myokarditis-Risiko nach Impfung mit dem Moderna-Impfstoff deutlich höher war als nach Impfung mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff (Odds Ratio 79,8 versus 10,9).

Obgleich die Daten klar ein erhöhtes Myokarditis-Risiko nach Applikation eines mRNA-Impfstoffes zeigen, ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfung weiterhin eindeutig positiv. Impfstoff-bezogene Herzmuskelentzündungen sind zwar möglich, aber sehr selten, wie unter anderen auch aktuelle Daten von zwei Studien aus Israel ergeben haben. Zudem verliefen die Herzmuskelentzündungen bei den meisten Patienten mild. Junge Menschen erholten sich rasch von einer Myokarditis nach COVID-19-Impfung, berichteten kürzlich auch Autoren einer Auswertung von US-Daten

Myokarditis durch die Infektion häufiger und gefährlicher

Dass Myokarditiden nach Impfung gegen SARS-CoV-2 selten sind, ergaben darüber hinaus die bisherigen Untersuchungen des Sicherheitsausschusses der EMAAuch aktuelle britische Daten bestätigen: Eine Myokarditis durch die Impfung ist selten und vor allem deutlich seltener und leichter als eine Myokarditis durch das Coronavirus (Nature Medicine“). Die Berechnungen der Autoren ergaben bei erster Impfung mit dem vektor-basierten Impfstoff zwei zusätzliche Myokarditis-Ereignisse pro 1 Million Geimpften, bei Comirnaty (erste Impfung) ein zusätzliches Myokarditis-Ereignis und bei Spikevax (erste Impfung) sechs zusätzliche Myokarditis-Fälle. Nach der zweiten Impfung mit dem Moderna-Impfstoff waren es zehn zusätzliche Fälle. 

Zum Vergleich: Bei Personen mit positivem SARS-CoV-2-Test wurden 40 Myokarditis-Fälle pro eine Millionen Personen innerhalb von 28 Tagen nach dem Test ermittelt. Zudem hätten sie ein erhöhtes Risiko für Perikarditis und Herzrhythmusstörungen nach einem positiven SARS-CoV-2-Test festgestellt, berichten die Autoren. Ähnliche Zusammenhänge seien bei keinem der Impfstoffe beobachtet worden, abgesehen von einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen nach einer zweiten Dosis des Moderna-Impfstoffes. Subgruppen-Analysen nach dem Alter hätten zudem gezeigt, dass das erhöhte Myokarditis-Risiko im Zusammenhang mit den beiden mRNA-Impfstoffen nur bei Personen unter 40 Jahren aufgetreten sei.

Impfung auch für Kinder wirksam und sicher

Als überaus wirksam und vor allem sicher haben sich die mRNA-Impfstoffe auch bei Kindern im Grundschulalter erwiesen. So induzierte der mRNA-Impfstoff BNT162b2 bei 99 % der Kinder von 5 bis 11 Jahren eine Serokonversion zu Woche 4 nach der 2. Impfung und schützte zu fast 91 % vor einer Infektion. Fast fünf Millionen Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren seien inzwischen in den USA gegen COVID-19 geimpft, Herzmuskelentzündungen seien bislang nicht festgestellt worden, so Medienberichten zufolge die Direktorin der Centers for Disease Control and Prevention, Dr. Rochelle Walensky.

Neues Unheil droht: Omikron

Das sind sicher gute Nachrichten. Aber bekanntlich ist vor wenigen Tagen neues Unheil aufgetaucht. Denn als wäre Delta nicht schon ein Übel genug, gibt es nun noch eine besorgniserregende Mutante, die die Welt in Alarmstimmung versetzt: Es geht um die Variante Omikron. Gründe für die Sorgen: Das Reinfektionsrisiko ist bei der Omikron-Variante deutlich höher als bei Beta und Delta. Der Impfschutz ist klar geringerwie Labor-Untersuchungen und auch erste klinische Daten zeigen. Experten in Deutschland sind daher, wie berichtet, überaus besorgt: So warnten auf einer Pressekonferenz des Science Media Center Prof. Dr. Sandra Ciesek, Prof. Dr. Christoph Neumann-Haefelin und Prof. Dr. Dirk Brockmann unisono vor einem dramatischen Szenario, das durch die neue hoch-ansteckende Immunescape-Variante schon in wenigen Wochen drohe. Omikron breite sich mit einer Geschwindigkeit aus, wie sie bislang noch nicht gesehen worden sei, sagte Brockmann laut dem Beitrag von Medscape. „Das ist um den Faktor 3 bis 4 schneller als bisher bekannt – so was hatte bislang keiner auf dem Radar. Das sind Zeitskalen, die wir bisher nicht kannten.“

 „Alle Zeichen stehen auf Rot“, warnte auch Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Doch sie habe nicht den Eindruck, dass dies bei den politisch Verantwortlichen in Deutschland bereits angekommen sei. Sie bezog sich dabei vor allem auf die aktuelle Entscheidung, Geboosterte bei 2G+ von der Testpflicht auszunehmen. „Darauf zu verzichten, halte ich nicht für klug“, sagte sie dem Beitrag zufolge.

Erst die Pandemie, dann Long Covid

So sicher offenbar die Omikron-Welle auf die Welt zukommt, so sicher ist auch, dass mit dem Ende der Pandemie die Welt nicht aufatmen kann. Denn ausser ökonomischen und sozialen Folgen hat COVID-19 auch gesundheitliche Langzeit-Folgen: Ein Teil der offiziell Genesenen ist weiterhin krank, leidet etwa unter Fatigue, Konzentrationsstörungen und Muskelschmerzen.  

Dass ein Teil der COVID-19-Patienten auch nach der Akutphase der Infektionskrankheit und der Klinik-Entlassung noch erhebliche Beschwerden hat, wurde bereits vergangenes Jahr berichtet. So wies zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin darauf hin, dass auch nach Abklingen der Infektion die Lungenfunktion und die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sein können; einige „genesene“ Patienten benötigten daher nach der Akutphase der Erkrankung eine fachkundige Nachsorge und Rehabilitation durch erfahrene Pneumologen. Die Fachgesellschaft veröffentlichte daher bereits recht früh „Empfehlungen zur pneumologischen Rehabilitation bei COVID-19".

Ein zarter Hoffnungsschimmer

Es gibt allerdings auch ein Fünkchen Hoffnung: oral verabreichte Wirkstoffe können vorläufigen Studien-Resultaten zufolge bei COVID-19-Patienten womöglich Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle verhindern. Vielversprechend sehen insbesondere die vorläufigen Daten zu dem Protease-Hemmer Paxlovid von Pfizer aus. Laut Pfizer wurde bei COVID-19-Patienten, die innerhalb von drei Tagen nach Auftreten der Symptome behandelt wurden, eine 89-prozentige Verringerung der COVID-19-bedingten Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle aus jeglicher Ursache beobachtet. Weniger optimistisch stimmen die Daten zu Molnupiravir, dem oralen Wirkstoff von Merck (MSD). Trotz der vergleichsweise geringen Wirksamkeit und Sicherheitsbedenken hat ein Berater-Gremium der FDA die Zulassung der von Molnupiravir für die Behandlung von Patienten mit hohem Risiko für schwere COVID-19-Verläufe empfohlen. Ob die EMA der FDA folgt, ist ungewiss.

Gewiss ist hingegen schon jetzt: Auch im kommenden Jahr wird das Virus im Weltgeschehen und in unserem Leben ein kräftiges Wörtchen mitreden, und zwar kaum weniger als Biden, Putin und Co.