Die moderne Medizin - unheilbar krank?
- Dr. med. Thomas Kron
- Im Diskurs
Schon vor über 40 Jahren warnte der Philosoph und Theologe Ivan Illich vor der Medikalisierung der Medizin und der Industrialisierung sowie Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Vieles, wovor er warnte, ist längst Realität geworden. Die Krankenversorgung erfolge zunehmend „nach dem Vorbild industrieller Produktion“, kritisiert etwa der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio. Was heute zähle, seien vor allem mess- und kontrollierbare Parameter wie Menge, Schnelligkeit, Effizienz. Worauf es ankommt, ist nicht das, was Patienten brauchen und ihre Ärzte für medizinisch geboten halten, sondern was Controller wollen.
Die Medizin sei zu einer „industrialisierten Kultur des Exzesses“ geworden, sie sei tatsächlich, wie Illich befürchtet habe, eine Bedrohung der Gesundheit, er habe sein Vertrauen verloren, schreibt nun Seamus O’Mahony, Gastroenterologe an der Universität von Cork, in seinem Buch mit dem Titel: „Can Medicine be cured?“. Dieses Buch sei die „vernichtendste Kritik an der modernen Medizin seit Ivan Illich“, meint dazu Richard Smith, der ehemalige Chefredakteur des „British Medical Journal“.
Vorbei sei das Goldene Zeitalter der Medizin, so O’Mahony, womit er die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 70-Jahre meint, in der eine Fülle neuer wirksamer Medikamente und chirurgischer Interventionen verfügbar wurde und die meisten Menschen in den wohlhabenden Ländern freien Zugang zu eine modernen medizinischen Versorgung hatten. Heute seien wir „im Zeitalter der unerfüllten und unrealistischen Erwartungen, im Zeitalter der Enttäuschung“, schreibt der Gastroenterologe.
Die Krankheiten der Medizin
Was sind nun die vielen Übel, an denen die Medizin erkrankt sein soll? O’Mahony nennt zunächst die medizinische Forschung. Sie sei längst der intellektuelle Motor des medizinisch-industriellen Komplexes. Doch von „Big Science“, die die Jahre nach dem „Goldenen Zeitalter“ bestimmt habe, hätte zwar die Wissenschaft profitiert, es seien auch viele Jobs geschaffen worden. Aber den Patienten hätte „Big Science“ nur wenig genutzt. So habe eine Studie von 101 als grundlegend und klinisch relevanten eingestuften wissenschaftlichen Entdeckungen ergeben, dass 20 Jahre nach der Publikation in einer renommierten Fachzeitschrift nur einer dieser angeblichen „Meilensteine“ in einen relevanten Fortschritt für die Patienten gemündet sei. Die medizinische Forschung habe längst keinen Bezug zur medizinischen Praxis mehr. „Big Science“ sei durch falsche Anreize, Karrierismus und Kommerzialisierung korrumpiert worden.
Wie andere Autoren kritisiert auch O’Mahony das Phänomen des „disease mongering“, der so genannten „Krankheitserfindung“, wobei er sich, als Gastroenterologe, auf die viel diskutierte „Gluten-Sensitivität“ als ein Beispiel für ein „erfundenes“ Leiden konzentriert. Der Vorwurf, dass pharmazeutische Unternehmen, Wissenschaftler und Ärzte aus Eigeninteressen gesunde Menschen zu Kranken zu erklärten, ist schon oft laut geworden. „Disease Mongers“ lautete der Titel eines Buches der US-Journalistin Lynn Payer, das vor einem Vierteljahrhundert erschien. In Deutschland wurde das Thema dann einige Jahre später durch Bücher wie „Die Krankheitserfinder“ und „Die Krankmacher“ bekannt.
„Exzessive Vermarktung" von Krankheiten
Krankheiten werden aber nicht nur erfunden oder gemacht, sondern auch vermarktet,denn schließlich sollenn sie ja profitabel sein. Nur ein Merketing-Mittel seien die bekannten „Awareness“-Tage, - Wochen und -Monate, an denen für mehr „Awareness“ und vor allem für mehr finanzielle Mittel getrommelt werde - gemäß dem bekannten Motto: Das Rad, das am lautesten quietscht, bekommt am meisten Fett. Folgen der exzessiven Vermarktung seien Verschwendung und falsche Verteilung von Ressourcen. Am besten zu vermarkten sind, wie Richard Smith schreibt, Krebs-Erkrankungen. Auch mächtige Politiker werden eingespannt. Dass diese selbst Krebs-Krankheiten und Krebs-Kranke für die persönliche Imagepflege instrumentieren, sei nur am Rande erwähnt. So versprach 2015 Jo Biden, damaliger Vizepräsident der USA, eine Art Mondlandung beim Kampf gegen Krebs; Anfang 2016 wurde dann - in Anlehnung an Bidens Worte - die Initiative „Cancer Moonshot 2020“) ins Leben gerufen, unter Trump heißt sie nun „Cancer Breakthroughs 2020“. Der deutsche Gesundheitsminister begnügte sich vor wenigen Wochen nicht einmal mit „Durchbrüchen“, sondern verkündete sogar, dass der Krebs in 10, 20 Jahren besiegt sei. Woraufhin dann einige Onkologen sich gezwungen fühlten, den Visionen des Ministers mit von Sachkompetenz genährtem Realismus entgegenzutreten.
Ein weiteres Leiden der Medizin, auf das der Gastroenterologe hinweist, ist der Verlust an Macht und Einfluss der Ärzte. Woran die Ärzteschaft nach Ansicht von O'Mahony nicht ganz unschuldig sei. „Unsere Selbstzufriedenheit und kollektive Feigheit haben uns dahin gebracht, wo wir heute sind." Die Ärzteschaft sei gespalten und keine homogene Berufsgruppe mehr, die eine gute medizinische Versorgung ihrer Patienten als gemeinsames primäres Ziel verfolge.
„Digital Health" wirklich ein Segen?
Auch die Digitalisierung der Medizin, genauer gesagt, ihre Versprechungen, sieht O’Mahony skeptisch. So kann sich jeder Smartphone-Besitzer mit Hilfe von speziellen Apps selbst „monitoren“ und dann, ebenfalls mit Hilfe von Apps, entscheiden können, was zu tun sei. Das sieht zunächst wie mehr Selbstbestimmung aus. Doch wirklich „gemonitort“ und gelenkt würden die App-Nutzer nicht von sich selbst, sondern von Versicherungsgesellschaften zum Beispiel, die ihre Daten erhielten und systematisch auswerten könnten. Diese Befürchtungen scheinen nicht unberechtigt zu sein. Medizinische Geräte, etwa CPAP-Geräte für Schlafapnoe-Patienten, und auch Apps behielten ihre Informationen nicht für sich selbst, sondern gäben sie an Hersteller und Versicherungsgesellschaften weiter, so ein Bericht im Online-Portal „ProPublica“. Populäre Apps leiten laut einem aktuellen Bericht im „Wall Street Journal“ persönliche Daten von Nutzern direkt an Facebook weiter.
Außerdem soll die Digitalisierung der Medizin nicht nur Risiken in sich bergen. Auch bei ihren Chancen ist Kritikern zufolge Skepsis angebracht. So sei es ein Irrglaube anzunehmen, dass mehr Daten durch „Big Data“ in der Medizin automatisch mehr Wissen bedeuteten, warnt etwa Professor Gerd Antes, Co-Direktor von Cochrane Deutschland in Freiburg. Mehr Daten könnten sogar mehr Fehler bedeuten, was ein großes Risiko in der Patientenversorgung darstelle, so Antes. Ein weiteres Argument für einen kritischen Umgang mit „Big Data“ sei die große Entfremdung der Bevölkerung von der Medizin. Antes: „Alle wollen mehr Sprechzeiten und persönliche Zuwendung. Aber alles, was jetzt gerade passiert im Hinblick auf die Digitalisierung und Big Data, geht in eine ganz andere Richtung.“ Das treffe massiv die älteren Patienten.
Heilung durch „strukturelle Gewalt"
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