DGIM-Kongress: Therapieren bis zum Lebensende?
Von Marc Fröhling
In seinem Vortrag erläutert Prof. Igor-Wolfgang Blau am Beispiel der Hämatologie und vor allem anhand des Multiplen Myeloms das „Pro“ einer Therapie bis zum Lebensende. Aufgrund der Bösartigkeit hämatologischer Erkrankungen sei die Frage einer Behandlung oder Nicht-Behandlung auch immer eine Frage von Leben und Tod.
Dies führe auch zur Frage: „Schaden wir dem Patienten mit der Behandlung oder helfen wir ihm wirklich?“ Denn gerade im hämatologischen Bereich fügen laut Blau die Therapien den Patienten Leid zu: „Wir verschlechtern zunächst den Zustand des Patienten nicht wegen der Erkrankung, sondern wegen unserer Therapie“, so Blau. Das Ergebnis ist jedoch die Liquidierung der Erkrankung. „Den Todeszeitpunkt bestimmt beim Myelom nicht die Therapie, sondern die Erkrankung.“
Zwar gelte das Multiple Myelom als unheilbar, mit Blick auf die Erhaltungstherapie zeigten jedoch Daten, dass deutlich über 50% der Erkrankten auch nach 10 Jahren noch am Leben seien. Dies treffe auch auf ältere Patienten über 75 Jahre zu. Ein entscheidender Punkt dabei ist laut Blau die Lebensqualität der Betroffenen. „Die Symptome der Erkrankung sind für die Patienten schwerwiegender als das, was die Therapie an Nebenwirkungen verursacht“, so Blau.
Kausale Therapie bis zum Tod?
Eine besondere Situation stellt die Therapieentscheidung bei Rezidiven dar. Die Entscheidung sollte immer abhängig sein von den Vortherapien, der Dauer der Remission, Alter und Fitnessgrad der Patienten, möglichen Begleiterkrankungen und dem Nebenwirkungsspektrum. Letztlich ist die Frage entscheidend, ob die Therapie bis zum Tod immer weiter fortgeführt werden sollte. Durch genaue Anamnese sollten auch die Leiden der Erkrankten abgeschätzt werden, um die Frage zu beantworten: „Sind diese durch die Therapie bedingt oder durch die Erkrankung? Die Therapieentscheidung sollte immer gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten diskutiert und abgewogen werden. Sollte jedoch der Fall einer therapie-induzierten Lebensverkürzung eintreten, müsse über die Behandlung diskutiert werden.
Übertherapie am Lebensende?
Prof. Dr. Claudia Bausewein, die die Gegenseite beleuchtet, geht zunächst auf Studiendaten ein, die eine deutlich steigende Hospitalisierungsrate im letzten Lebensjahr von Patienten zeigen – hier insbesondere im letzten Monat vor dem Tod. Man müsse sich die Frage stellen, ob es sich dabei um eine gewisse Form der Übertherapie handle. Kriterien hierfür sind laut Bausewein:
- nicht angemessene Behandlungsmaßnahmen, die nicht zu einer für den Patienten bedeutsamen Verbesserung der Lebensqualität oder Verlängerung der Lebensdauer führen,
- dass der Schaden der Maßnahmen den Nutzen deutlich überwiegt sowie
- dass der Patientenwille nicht beachtet wurde.
Hinweise darauf ergeben sich beispielsweise aus Studiendaten zu Chemotherapien bei soliden Tumoren in den letzten Lebensmonaten: In 28 von 38 Studien mit Verlängerung des progressionsfreien Überlebens durch die Chemotherapie war der Zeitgewinn im Vergleich zur Kontrollgruppe relativ gering (1,9 Monate). Zudem kam es zu keiner signifikanten Verbesserung der Lebensqualität bei verlängertem Überleben.
Des Weiteren verlören Patientinnen und Patienten in den letzten Monaten mit gutem Funktionsstatus und Chemotherapie den Ergebnissen zufolge in ihren letzten Lebenswochen an Lebensqualität. Sei der Funktionsstatus bereits mäßig oder schlecht, könne die Lebensqualität zudem nicht positiv beeinflusst werden. Das Risiko für Reanimation und Beatmung steige ebenso wie das Risiko für Tod auf Intensivstationen und eine Hospizüberweisung.
Wie kommt es zu Übertherapien?
Das Entstehen einer Übertherapie ist laut Bausewein nicht monokausal zu sehen. Ein Positionspapier der DIVI/DGIIN aus dem vergangenen Jahr zeigt mögliche Einflussfaktoren in Bezug auf Indikationsstellung (z.B. ökonomische Faktoren, Unsicherheit, juristische Aspekte) und den Patientenwillen (z.B. Gesundheitskompetenz, Individuelle Werte und Wünsche, gesellschaftliche Faktoren). Im Positionspapier enthalten ist zudem eine Anleitung, um Überversorgung zu erkennen und zu vermeiden.
Therapie am Lebensende: Überhaupt eine Schwarz-Weiß-Frage?
Aus Sicht von Bausewein handelt es sich mit Blick auf die Therapie am Lebensende nicht um eine Schwarz-Weiß-Frage. Man müsse sich viel mehr überlegen, was die Voraussetzungen für medizinische Maßnahmen sind. Gerade diese Aspekte würden im klinischen Alltag nicht ausreichend bedacht. Würden medizinische Maßnahmen erwogen, sollte zunächst immer das Therapieziel ermittelt werden. Hieraus ergebe sich eine Indikation für eine Maßnahme, wofür es den Patientenwillen erfordere. Laut Bausewein ist in diesem Kontext auch die Frage berechtigt, ob wirklich alle Patienten immer ausreichend über alle Therapieoptionen informiert sind.
Ist der Patient oder die Patientin nicht mehr heilbar, geht es um palliative Therapiemaßnahmen mit dem primären Ziel, das verbleibende Leben bei gutem Funktionserhalt zu verlängern. Bausewein betont hierbei, an dieser Stelle nicht zu verharren: Ist das primäre Ziel nicht mehr erreichbar, gebe es mit Blick auf die palliativmedizinischen Aspekte weitere Behandlungsziele mit Fokus auf die Lebensqualität und darüber hinaus: „Ein friedvolles Sterben ist ein extrem wichtiges Therapieziel“, so Bausewein. Bei der Therapiezielfindung sei eine partizipative Entscheidung unter Einbeziehung von Patienten und Angehörigen essentiell. Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf müssen die gesetzten Therapieziele immer wieder neu diskutiert und definiert werden. In schwierigen Entscheidungssituationen und wenn Meinungen divergieren, rät Bausewein zu Ethikbesprechungen.
In unserem Medizinsystem „ist es einfacher, etwas zu tun, als etwas zu lassen“
Abschließend beschreibt Bausewein eine grundsätzliche Herausforderung aller Ärztinnen und Ärzte mit Blick auf das Lebensende von Erkrankten: Wir leben und arbeiten in einem Medizinsystem, „in dem es viel einfacher ist, etwas zu tun, als etwas zu lassen“. Dies sei nur schwer auszuhalten und bedürfe einer aktiven Auseinandersetzung mit der Sterbephase. Auch die „S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit nicht heilbaren Krebserkrankungen“ besage, dass alle Maßnahmen, die nicht dem Therapieziel bestmöglicher Lebensqualität dienen, in der Sterbephase nicht eingeleitet werden sollen.
Bausewein möchte dennoch dafür plädieren, dass es Therapien am Lebensende braucht: Zwar habe palliativmedizinische Therapie ganz andere Ziele, dennoch sei diese nicht weniger intensiv und differenziert. Eine bedeutende Rolle spiele hier Kommunikation, die mitunter „wichtiger ist, als das richtige Opiat zu finden.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
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