Das Stendhal-Syndrom: Wenn Schönheit überwältigt
- Dr. Angela Speth
- Medizinische Nachrichten
„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“, dichtete Rainer Maria Rilke. Möglicherweise war er etwas zu optimistisch, da immer wieder Menschen Schönheit – vor allem im Übermaß - offenbar doch schwer ertragen: Bei ihrem Anblick erleiden sie einen Zusammenbruch. In Wissenschaft und Populärkultur kursiert dieses Phänomen als Stendhal-Syndrom, benannt nach jenem Schriftsteller, der es 1817 - rund ein Jahrhunderte vor Rilkes Duineser Elegie - bei einem Florenz-Aufenthalt eindrücklich geschildert hat. In einer Krankengeschichte über den französischen Romancier wird es vorgestellt.[1]
In die Welt gekommen ist das Stendhal- oder auch Florenz-Syndrom durch die Psychoanalytikerin Dr. Graziella Magherini, erläutern der Neurologe Prof. Dr. Julien Bogousslavskya von der Clinique Valmont in Montreux und Gil Assalb aus Lausanne. Die langjährige Leiterin der psychiatrischen Abteilung am Krankenhaus Santa Maria Nuova im historischen Zentrum von Florenz hatte immer wieder Touristen betreut, die von Gemälden und Architektur der Renaissance tief getroffen waren.
Verliebt in die Sybillen von Santa Croce
Solche psychosomatischen Krisen erinnerten Magherini an eine Passsage aus dem Buch „Rom, Neapel und Florenz“ von Marie-Henri Beyle, der sich das Pseudonym „Stendhal“ zugelegt hatte: In der prunkvollsten Florentiner Kirche verlor er die Fassung wie plötzlich verliebt:
„Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer [Anm.: Machiavelli, Michelangelo und Galilei)] deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase … Die Sybillen von Volterrano [Anm.: das Deckengemälde „Krönung der Jungfrau Maria“ in der Kuppel der Capella Niccolini mit je einer Orakelleserin in den vier Zwickeln] bereiteten mir das kostbarste Vergnügen, das ich je bei Malerei empfunden habe ... Ich war todmüde, hatte geschwollene Füße, die in den engen Schuhen schmerzten; wenn auch eine unbedeutende Empfindung, so hätte sie mich doch daran gehindert, Gott in all seiner Herrlichkeit zu bewundern - aber vor diesem Bild vergaß ich alle Beschwerden. Mein Himmel, wie schön ist das! ... Ich geriet in eine Ergriffenheit, in der die himmlischen Empfindungen der bildenden Kunst auf leidenschaftliche Gefühle treffen. Als ich Santa Croce verließ, hatte ich Herzklopfen, was man in Berlin einen Nervenanfall nennt; das Leben erschöpfte sich in mir, ich fürchtete hinzufallen.“
Davon inspiriert taufte Magherini 1979 derartige Vorfälle „Stendhal-Syndrom“. 1989 veröffentlichte sie 106 Beispiele in ihrem Buch „La Sindrome di Stendhal“ und machte den Begriff damit international publik.
Magherinis Buch löste weltweit Widerhall aus
In dieser ersten wissenschaftlichen Beschreibung skizziert sie ein Profil der Patienten: Sie sind meist zwischen 26 und 40 Jahre alt, etwas mehr Männer als Frauen. Mit guter – auch klassischer oder religiöser - Schulbildung im Hintergrund, haben sie ihre Reiseroute nach künstlerischen Interessen ausgewählt. Mehr als die Hälfte war zuvor bereits in psychologischer Behandlung. Alle kommen aus dem Ausland, besonders aus den USA und Europa nördlich der Alpen, oft aus Gegenden, wo traditionsreiche Kunst eher Mangelware ist. Japaner bewahren die Contenance, vermutlich weil sie meist im Schutz einer Gruppe unterwegs sind, Alleinreisende dagegen ohne anteilnehmende Begleiter sind gefährdet. Einheimische scheinen ebenfalls immun, wahrscheinlich weil sie seit ihrer Kindheit förmlich in dieser Aura „baden“.
Die Symptome gruppiert Magherini in drei Kategorien:
Panikattacken mit Herzrasen, Schwindel, erhöhtem Blutdruck, Ohnmachtsanfällen, Bauchschmerzen und Krämpfen
affektive Störungen: Depressivität, einhergehend mit Weinen, Schlafproblemen, Heimweh, oder umgekehrt Euphorie und Selbstüberschätzung
Bewusstseinsstörungen: Orientierungsverlust, Wahnvorstellungen, Schuldgefühle, und Verfolgungsängste bis hin zu Halluzinationen und Psychosen.
Fallberichte zeigen: Kunst kann erschrecken
Da ist zum Beispiel Inge, Italienisch-Lehrerin aus Skandinavien, unglücklich verheiratet. Ihre Reise nach Florenz ist die erste seit Jahren, trotzdem fühlt sie sich schuldig, weil sie ihren pflegebedürftigen Vater allein gelassen hat. Bei ihrer Ankunft sofort der Eindruck: Hier bin ich fehl am Platz. Vor dem Gemälde eines Letzten Abendmahls bekommt sie Herzklopfen, sieht Lichtblitze und hält sich für eine der Frauen, die einen Früchtekorb zum Tisch Jesu tragen. Ihre akute Paranoia verschlechtert sich derart, dass sie ärztliche Hilfe benötigt.[2]
Oder Kamil, Student an der Kunstakademie in Prag. Nach mehreren Tagen Sightseeing ergreift ihn in einer Kirche ein Unwohlsein, er bekommt Angst, in Ohnmacht zu fallen oder zu ersticken, so dass er ins Freie eilen und sich auf einer Treppe hinlegen muss. Er glaubt, seine Identität zu verlieren und auseinanderzubrechen. Erst eine monatelange Therapie ermöglicht ihm die Rückkehr in sein früheres Leben.[3]
Solche Attacken stellen Magherini zufolge den heftigen Pendelausschlag eines künstlerisch-ästhetischen Gespürs dar. Sie überfallen sensible Gemüter, die sich auf die Zwiesprache mit einem Werk einlassen. Von dessen Pracht, Kostbarkeit und Bedeutung überrascht, ja aufgewühlt, nehmen sie das Dargestellte auf außergewöhnlich lebendige Weise wahr.
Eine schier betäubende Masse an Sehenswürdigkeiten
Verstärkend wirkt, was man „Hyperkulturämie“ nennen könnte: Florenz lockt mit Dutzenden Museen, mehr als 200 Palästen und Türmen, gut 150 Kirchen und Klöstern, alle bis unters Dach gefüllt mit Giottos, Botticellis, Michelangelos, Raffaels ... Nicht von ungefähr prahlt der Antrag zum UNESCO-Weltkulturerbe 1982, „jede Rechtfertigung hierfür [ist] lächerlich und unverfroren“, da sich hier die „weltgrößte Anhäufung universell bekannter Kunstwerke“ befinde. Ebenfalls nicht von ungefähr hat das Forbes Magazine Florenz zu einer der schönsten Städte der Welt gekürt.[4]
Von diesem geballten Angebot verführt oder auch in die Pflicht genommen, klappern Touristen in kurzer Zeit Hunderte von Meisterwerken ab und muten sich damit auch eine Überdosis an Emotionen zu, vielfach unfähig, die Unmenge an Eindrücken in ihre Alltagsexistenz einzubauen.
Renaissance-Kunst lädt zur Identifikation ein
Deshalb trete die Exaltation à la Stendhal wohl am häufigsten in Florenz auf, meint Magherini, zumal hier speziell die Renaissance so dominiert wie nirgends sonst, eine Kunstrichtung, die alle anspricht, selbst jene, die wenig darüber wissen. Dagegen habe sie noch nicht erlebt, dass Menschen durch die eher spröde Konzeptkunst fundamental berührt werden, weil sich deren Botschaft selten spontan, sondern erst über rationales Denken erschließt.[5]
Allerdings sei die italienische Renaissance nicht nur heiter, vielmehr dränge sich auf subtile Weise auch Beklemmendes in all die Harmonie, wie auf Botticellis „Frühling“ oder „Geburt der Venus“ der hässliche Windgott Zephyr, der sich an einer Nymphe vergreift.
Eine erste psychologische Bewertung des Kunstempfindens als „verstörende Kraft“ stammt von Sigmund Freud höchstpersönlich: 1936 schildert er Erinnerungsstörungen und Schuldgefühle beim Besteigen der Akropolis in Athen.[6]
Magherinis psychoanalytischer Deutung zufolge entspringt das Stendhal-Syndrom unbewussten Emotionen oder Konflikten, die durch die Begegnung mit einem Kunstwerk wieder aufbrechen. Ebenso kann ein verdrängtes Trauma zur Oberfläche hochsteigen, indem die Betrachter das, was sie umtreibt, aus der Bildsprache herauslesen. Die Realität tritt zurück, das Seelenleben mit unkontrollierten Gefühlen rückt nah heran, doch die befreiende Umwandlung in Symbole oder Gedanken misslingt.
Spiegelneuronen liefern ein Erklärungsmodell
Auch Neurobiologen bieten Theorien, auf welche Weise ästhetische Reize Affekte erzeugen. Entscheidend für das Verständnis anderer Menschen - soziale Kognition genannt - seien die Spiegelneuronen, postulieren ein Kunsthistoriker und ein Neurologe in ihrer Publikation: Wer Zeuge wird, wie jemand eine Handlung vollführt oder dass ihm Gefahr droht, bei dem werden die gleichen Hirnareale aktiv, wie wenn er selbst agieren würde oder sich in einer heiklen Lage befände.[7] Dabei spiele es keine Rolle, ob das Beobachtete real ist oder nur auf einem Bild stattfindet. Mögliche Gefühls-Spiegelneuronen könnten dann Empathie vermitteln. Diese Einfühlung entspringe nicht begrifflichem Denken, sondern einem phylogenetisch älteren unmittelbarem Verstehen. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass solche Nervenzellen bei manchen Kunstsinnigen besonders intensiv „feuern“ und damit das Stendhal-Syndrom auslösen.
Beruhigend jedenfalls, dass Schwindel, Herzflattern und Visionen meist innerhalb weniger Stunden von selbst verschwinden, oft genüge ein klärendes Gespräch, berichtet Margherini. Weiterhin empfiehlt sie: „Ausruhen. Mit Landsleuten reden. Und schnell wieder nach Hause fahren.“[6] Außerdem: sich Zeit nehmen. Sind die Symptome schwerer oder bilden sich nicht spontan zurück, könnten Psychotherapie oder Psychopharmaka sinnvoll sein. Nur selten entwickelt sich eine ausgeprägte psychiatrische Störung.
Ist der Schwindel vor Kunst nur ein Fake?
Kritiker freilich bestreiten die Existenz des Stendhal-Syndroms, sondern interpretieren es schlicht als Neurose und werfen der Namensgeberin vor, psychopathologische Symptome mit anekdotischen Beobachtungen vermengt zu haben. Reisemediziner sind zwar eher geneigt, die Störung ernst zu nehmen, trotzdem ist sie keineswegs als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.[8]
Magherini ficht das nicht an: „Ich habe keine diagnostische oder therapeutische Entdeckung gemacht. Mir ging es darum, auf die psychoanalytische Bedeutung des Reisens hinzuweisen.“ [9] Diese Fährte hat sie sogar weiter verfolgt: In ihrem neuen Buch „Ich habe mich in eine Statue verliebt. Jenseits des Stendhal-Syndroms“ untersucht sie exemplarisch, was Michelangelos „David“ im Seelenhaushalt der Bewunderer anrichtet.
Viele Differentialdiagnosen kommen in Frage
Dass viele Einflüsse den Kollaps à la Stendhal erklären können, liegt auf der Hand: Da hat man jahrelang für Florenz gespart, sich vorab über jedes Detail der fabelhaften Kunstschätze informiert. Hochgespannte Erwartungen. Dann schiebt man sich gezwängt in Menschenmassen – über 4 Millionen Besucher jährlich – durch die Stadt der Träume. 40 Grad im Schatten, der Jetlag steckt noch in den Knochen oder die schlaflose Nacht auf der durchgelegenen Hotelmatratze. Schlangestehen, dehydriert, sinkender Blutzuckerspiegel, ungewohntes Essen, vielleicht Reisedurchfall. In den Uffizien Platzangst und schlechte Luft. Sowieso ist jede Reise ein seelischer Ausnahmezustand, eine Entwurzelung aus dem vertrauten Umfeld. ,,Das sind gewiss alles Faktoren“, räumt Magherini ein, „aber der Kern ist etwas anderes. Kunst gelingt es, uns etwas spüren zu lassen, was wir nie ausgedrückt und nie gewusst haben .“[6]
Insofern verwundert es nicht, dass die Vorstellung, welche Macht von Kunst ausgehen kann, beträchtliche Faszination entfaltet. Reiseführer über Florenz erwähnen das Stendhal-Syndrom, Presseartikel haben es in der Öffentlichkeit verbreitet, Schriftsteller und Filmemacher ihre Geschichten um das Motiv gestrickt[8], Faltblätter in Hotels der toskanischen Stadt warnen vor ästhetischer Übersättigung.[6]
Andere Städte eifern Florenz nach
(Populär)wissenschaftlichen Berichten zufolge geistern inzwischen ähnliche Erscheinungen durch andere Touristen-Magnete: Am Jerusalem-Syndrom leiden Pilger mit dem Wahn, ein Heiliger aus der Bibel zu sein, Jesus, Maria oder niemand geringerer als Gott[10], am Paris-Syndrom Reisende besonders aus Japan, wenn sie sich - statt umgarnt von Romantik und Liebe - in einem Großstadt-Moloch wiederfinden.[11] Die Diagnose „Venedig-Syndrom“ geht auf eine Studie zurück, wonach immer wieder Ausländer in der Lagunenstadt – angeregt von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ - Suizid zu begehen.[12]
Die Schwärmerei für das Land, wo die Zitronen blühn, und überwältigende Gefühle, wenn Bildungsreisende wirklich vor Goldorangen, Myrte und Marmorbildern stehen, haben Tradition. Spätestens seit dem Roman „A Sentimental Journey Through France and Italy“ des Schriftstellers Laurence Sterne von 1768 begeben sich Intellektuelle auf Grand Tour, um auch das Land der Italiener mit der Seele zu suchen.
Legendär ist Goethes „Italienische Reise“, wenngleich er Florenz aus Ungeduld, endlich Rom zu erreichen, auf dem Hinweg lediglich drei Stunden opferte: Am 23. Oktober 1786 um 10 Uhr früh „kamen wir aus den Apenninen hervor und sahen Florenz liegen … Den Lustgarten Boboli ... hab ich nur durchlaufen, so den Dom ... das Baptisterium“. Stendhal-würdige Erfahrungen ergreifen ihn erst in Rom: „Anderer Orten muß man das Bedeutende aufsuchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt.“ Auf der Rückreise widmet er der Stadt am Arno zwar einige Tage, notiert aber zum Beispiel am 6. Mai 1788 bloß prosaisch: „fast alles gesehen was Florenz an Kunstsachen enthält“.[13]
Für einen Verächter ist Rom ein „gigantischer Witz“
Mehr als cool dagegen bleibt der rebellische Popliterat Rolf Dieter Brinkmann.[14] Mit „Rom, Blicke“ setzt er in den 1970-Jahren einen Kontrapunkt gegen allen Kunst-Schmu: Dort „verlängerte sich wieder der Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung beträchtlich ... vielleicht hatte ich immer noch Reste einer alten Vorstellung in mir, daß eine Weltstadt wie Rom funkelnd sein würde, bizarr, blendend und auch gefährlich für die Sinne - ,Auch ich in Arkadien!` hat Göthe geschrieben ... Inzwischen ist dieses Arkadien ... zu einer Art Vorhölle geworden ... Man müßte es wie Göthe machen, der Idiot … jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede.“
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