Das SGB V von Grund auf neu gestalten
- Presseagentur Gesundheit (pag)
- Medizinische Nachrichten
Derzeit sind die Organe der Selbstverwaltung die bestimmenden Player im deutschen Gesundheitswesen. Sie entscheiden über Leistungen und Mittelverteilung. Das würde Dr. Klaus Piwernetz ändern: Nicht das, was der Leistungserbringer bereitstellt, müsse im Vordergrund stehen, sondern die Behandlungen, die dem Patienten wirklichen Nutzen bringt. Dazu sei ein Paradigmenwechsel erforderlich. Allerdings sieht der Systemkritiker erste Ansatzpunkte bei diagnosebezogenen Versorgungsmodellen.
Univadis: Das Konzept Value-based HealthCare (VBHC) vermittelt ein grundlegend neues Verständnis von Gesundheitsversorgung. Was kennzeichnet diesen Ansatz – insbesondere im Unterschied zu unserem jetzigen Gesundheitssystem?
Piwernetz: Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) betont zwei Aspekte: die gestaltenden Einrichtungen und die Kostenseite. Bürger und Patienten selbst spielen keine wesentliche Rolle. Der Gesetzgeber versucht zwar, Patientenorientierung zunehmend über verschiedene Gesetze zu stärken. Dennoch werden Bürger und Patienten bisher eher noch als Objekte gesehen. Sie finanzieren das System mit Steuern und Beiträgen, haben im Gemeinsamen Bundesausschuss jedoch keine Stimmrechte. Über den Leistungskatalog und die Verteilung der Mittel entscheiden die Organe der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems: der GKV-SV, die DKG und die KBV/KZBV. Grundlage bildet nicht etwa ein epidemiologisch oder soziodemografisch begründeter Versorgungsbedarf, sondern eher Angebote der Leistungserbringer.
Univadis: Soweit zum Ist-Zustand. Was kennzeichnet ein Gesundheitssystem, das an den Prinzipien von VBHC ausgerichtet ist?
Piwernetz: Im Kern geht es darum, die Patientenversorgung an den Ergebnissen, den Outcomes, zu orientieren. Nicht das, was der Anbieter oder Leistungserbringer bereitstellt, steht im Vordergrund, sondern die Behandlung, die dem Patienten wirklichen Nutzen in guter Qualität liefert. Messbare Versorgungsergebnisse bei gleichzeitiger Kosteneffizienz. Ungeeignete Behandlungen und unnötige Maßnahmen fallen so weg. Damit können die lange angeprangerten Missstände durch Unter-, Über- und Fehlversorgung deutlich reduziert werden.
Univadis: Wie kommen wir denn zu einer Ausrichtung hin zum tatsächlichen Versorgungsbedarf?
Piwernetz: Grundlage im Konzept Value-based HealthCare bildet der gesamte Verlauf einer chronischen Erkrankung oder die gesamte Episode eines umschriebenen gesundheitsrelevanten Ereignisses. Damit werden Kosten nicht wie bisher in Deutschland üblich auf Sektoren und Einrichtungen bezogen, sondern auf Patienten in ihrem individuellen Krankheitsverlauf einschließlich eventueller Komplikationen und Ko-Morbiditäten.
Univadis: Klingt plausibel, aber auch etwas sehr visionär.
Piwernetz: Insgesamt erscheint das Grundprinzip sehr attraktiv, erfordert aber im Detail doch einigen Definitionsaufwand. Die „Erfinder“ Porter und Guth beschreiben zwei spezifische Probleme bei der Erhebung der Kosten. Erstens: Die Aggregation der Kosten über die verschiedenen Kostenstellen für den gesamten Zeitverlauf. Zweitens: Die korrekte Zuordnung anteiliger Kosten aus unterschiedlichen Kostenarten. Gemeint ist der Gesamtaufwand aller Einrichtungen und Dienstleistungen über den „Care Cycle“ einschließlich des Aufwandes der Patienten selbst. Dies ist nicht zu verwechseln mit Preisen für die Versorgung.
Univadis: Wenn der langfristige Patientennutzen zum Gradmesser für Qualität und Vergütung werden soll – wie soll dieser Nutzen konkret gemessen werden?
Piwernetz: Die Initiative „Strategiewechsel jetzt!“ fordert die Definition von generischen Behandlungspfaden auf der Grundlage geltender S3-Leitlinien der AWMF. Diese Pfade bilden eine solide Grundlage für die Definition von Health Outcomes. Sie orientieren sich am Versorgungsbedarf und sind strikt am Patientenwohl ausgerichtet. Sie liefern auch die Struktur für die Beschreibung der erforderlichen medizinischen und pflegerischen Dokumentation. Damit bilden sie ein Gerüst für die Erhebung und Zuordnung der Kosten entsprechend den Forderungen von VBHC. Verantwortlich für die Definition der generischen Pfade sind die medizinisch-pflegerischen Fachgesellschaften.
Univadis: Das Modell der VBHC steht und fällt mit einer tragfähigen Interpretation des Value-Begriffs. Wie gelangen wir hier zu einer verbindlichen und allseits akzeptierten Definition und wie könnte diese aussehen?
Piwernetz: Zunächst müssten die Health Outcomes für die häufigsten und teuersten Erkrankungen über den gesamten Verlauf aufsummiert werden. Aufgrund der Sektorierung der Gesundheitsversorgung und der dysfunktionalen Desintegration der Gesundheitsversorgung in zahlreiche kleine Versorgungseinrichtungen bietet dies derzeit noch erhebliche praktische Probleme. Ein wichtiger Schritt könnte die Einführung der elektronischen Patientenakte sein. Diese Dokumentation müsste aber um weitere Items ergänzt werden, die es ermöglichen, auch den Patientennutzen abzuleiten. Das Definitionsproblem von „Value“ verlagert sich auf die Definition der Outcomes und der Kosten.
Univadis: In einem System, das den langfristigen Patientennutzen zur Grundlage der Vergütung macht, werden auf Dauer wesentlich mehr Daten benötigt als heute. Wie kann das angesichts strenger und uneinheitlicher Datenschutzregeln funktionieren?
Piwernetz: Wann immer es in den letzten Jahren um Dokumentation, Digitalisierung und Transparenz ging, konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Datenschutz-Karte immer dann gezogen wurde, wenn etwas verhindert werden sollte. Das muss sich grundlegend ändern. Das sieht Prof. Gerlach, der Vorsitzende des Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, genauso. Für ein Gesundheitssystem, das nach den Prinzipien von Value-based HealthCare funktioniert, bildet eine standardisierte Dokumentation und gesicherte Kommunikation zwischen allen Leistungserbringern eine unverzichtbare Voraussetzung. Jeder einzelne Patient muss selbst bestimmen können, wer welche Daten sehen darf. Inzwischen beginnt der Gesetzgeber den Zugang für Patienten und für Forschungszwecke zu regeln. Und es besteht Hoffnung, dass als Folge der Erfahrungen in der Corona-Pandemie die e-Health-Gesetzgebung in absehbarer Zeit auf der Grundlage eines dringend erforderlichen Masterplans Struktur gewinnt und endlich Fahrt aufnimmt. Dazu bedarf es eines klaren Auftrages an eine unabhängige Institution jenseits der Interessensvertretungen. Die Initiative „Strategiewechsel jetzt!“ schlägt dazu die Einrichtung eines Nationalen oder Bundesinstituts für Gesundheit vor.
Univadis: In der Pandemie klopfte sich mancher auf die Schulter ob der vermeintlichen Robustheit des deutschen Gesundheitssystems. Warum bedarf es aus Ihrer Sicht dennoch eines „Strategiewechsels“?
Piwernetz: Der Corona-Stresstest hat einige eklatante Schwachstellen offengelegt. Pflege und öffentlicher Gesundheitsdienst sind nur zwei Beispiele. Schlimmeres wurde am Ende vor allem durch die hohe Kompetenz und das überragende Engagement von Leistungserbringern in Schlüsselfunktionen verhindert. Der Preis für die Defizite war erheblich und zwar in Form von Menschenleben und von immensen Kosten. Nicht wegen, sondern trotz dieses Systems sind wir noch einmal glimpflich davongekommen. Deshalb ist ein Strategiewechsel erforderlich, und zwar jetzt.
Univadis: Was muss anders werden?
Piwernetz: Der größte Paradigmenwechsel besteht darin, immer vom Zweck und den Patienten her zu denken und zu planen. Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen muss das SGB V deshalb von Grund auf neu gestaltet werden. Eine ausführliche Analyse dazu liefert der Handlungskatalog „Neustart Gesundheitsrecht“.
Univadis: Bietet das bestehende Gesundheitssystem bereits Anknüpfungspunkte für die Umsetzung des VBHC-Ansatzes und wenn ja, welche sind das?
Piwernetz: Ja. Durchaus. Zu nennen wären die diagnosebezogenen Modelle wie Stroke Units, das Trauma-Netzwerk, DMP oder OnkoCert der DKG.
Univadis: Was könnten die nächsten Schritte sein?
Piwernetz: Ein integriertes Modell mit generischen Behandlungspfaden ableiten, das die Vernetzungsmethodik des Trauma-Netzwerkes mit den strukturierten Behandlungen in Stroke- und Chestpain-Units sowie den Methoden der Qualitätsentwicklung von OncoCert verbindet. Einen Masterplan für die digitale Transformation aufstellen, der sich am Zweck des Gesundheitssystems und an den Patienten orientiert.
Dies könnte dann als Grundlage für integrative regionale Versorgungsmodelle in föderaler Planungshoheit dienen. Man könnte direkt loslegen!
Neustart für das Gesundheitsrecht, Hg: Robert Bosch Stiftung: https://www.bosch-stiftung.de/de/publikation/neustart-fuer-das-gesundheitsrecht
Strategiewechsel: https://strategiewechsel-jetzt.de/start/die-autoren/
Dieser Volltext ist leider reserviert für Angehöriger medizinischer Fachkreise
Sie haben die Maximalzahl an Artikeln für unregistrierte besucher erreicht
Kostenfreier Zugang Nur für Angehörige medizinischer Fachkreise