COVID-19: „Freedom Day“, die Brechstange und ein möglicher Therapieansatz
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen hat in einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung" gefordert, am 30. Oktober alle Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie aufzuheben. Bis dahin könnten sich noch ausreichend viele Menschen gegen SARS-CoV-2 impfen lassen, so Gassen. „Meine Wette: Dann sind wir Ende Oktober bei einer Impfquote von 70 Prozent oder noch höher, weil sehr viele Menschen das Angebot dann doch schleunigst annehmen werden." Dies wäre wohl ausreichend, da die Risikogruppen schon jetzt weitgehend durchgeimpft seien.
Diese Idee eines sogenannten „Freedom Day“ stößt allerdings nicht überall auf Zustimmung. Kanzleramtschef Helge Braun etwa lehnt die von Gassen geforderte Aufhebung aller Corona-Einschränkungen ab Ende Oktober an. „Von einem 'Freedom Day' im Herbst ... halte ich derzeit nicht viel", sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. Es könne sein, dass es noch eine weitere Welle geben werde." Patientenschützer Eugen Brysch kritisierte Medienberichten zufolge, die Kassenärztlichen Vereinigungen seien „immer für eine Schlagzeile" zu haben. Und laut Niedersachsens Ärztekammer-Präsidentin Martina Wenker widerspricht es der ärztlichen Sorgfaltspflicht, „quasi Wetten auf zukünftige Krankheitsverläufe abzuschließen“. Für den Kölner Onkologe Professor Michael Hallek sind die Äußerungen von Gassen zur Pandemie fachlich nicht nachvollziehbar: „Er kann gerne auf unsere Intensivstation kommen. Die ist wieder voll mit COVID19-Patienten. Es ist noch nicht vorbei“, so Hallek auf Twitter. Auch SPD-Politiker Karl Lauterbach hält einen „Freedom Day“ am 30. 10. für falsch. „Sars-CoV-2 besiegt man nicht mit Brechstange“, twittert Lauterbach.
Cochrane Review zu Schutzmaßnahmen in Pflegeheimen
Bewohner von stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen sind durch COVID-19 besonders gefährdet. Aber auch ihre strikte Isolierung von der Außenwelt ist problematisch. Umso wichtiger ist es zu wissen, welche Maßnahmen Ausbrüche in solchen Einrichtungen wirklich verhindern können. Den Autoren eines aktuellen Cochrane Review zufolge gibt es bislang aber zu wenige wissenschaftliche Daten, die den Nutzen solcher Maßnahmen belegen.
Um Bewohner und Pflegepersonal vor COVID-19 zu schützen, wurden mehrere Maßnahmen getroffen, beispielsweise Beschränkungen der Besuchsmöglichkeiten oder das Aussetzen von Gemeinschaftsaktivitäten. Diese haben aber teils erhebliche Auswirkungen auf die seelische und körperliche Gesundheit der Betroffenen. „Bei derart einschneidenden Maßnahmen sollten wir eigentlich schon wissen, ob und wie gut sie wirken", sagt Review-Autor Jan Stratil, Arzt und Epidemiologe am Institut für Public Health und Versorgungsforschung an der Pettenkofer School of Public Health der LMU München.
Das Autoren-Team fand insgesamt 22 relevante wissenschaftliche Studien zu Schutzmaßnahmen in stationären Pflegeeinrichtungen. Dabei handelte es sich allerdings um elf Beobachtungsstudien und elf Studien auf Basis von mathematischen Modellen - beide Studientypen haben nur eine begrenzte Aussagekraft. Alle Studien wurden in Europa oder Nordamerika durchgeführt, allerdings keine in Deutschland. Die Studien beschrieben mehrere verschiedene Maßnahmen, darunter solche, die den Eintrag des Virus in die Einrichtungen verhindern, die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung in der Einrichtung reduzieren oder im Falle eines Ausbruchs dessen Folgen begrenzen sollen.
Bei der Auswertung der Studien zeigte sich allerdings, dass derzeit nur begrenzt Aussagen zur Wirksamkeit möglich sind. „Die Studien sind sehr unterschiedlich und viele haben eine Reihe von Schwachstellen. Das macht es schwer, für die meisten der untersuchten Maßnahmen eindeutige Schlüsse zu ziehen“, sagt Stratil.
Die Forscher fanden allerdings durchaus Hinweise, dass Schutzmaßnahmen dabei helfen können, SARS-CoV-2 Infektionen in den Einrichtungen zu verhindern. Das gilt vor allem für die regelmäßige Testung von Bewohnern und Pflegepersonal mit dem Ziel, Ausbrüche möglichst früh zu erkennen. Auch deutet die versammelte Evidenz aus Studien darauf hin, dass die Kombination verschiedener Schutzmaßnahmen Infektionen und Todesfälle reduzieren könnte. „Für eine Reihe anderer Maßnahmen ist die Studienlage allerdings unklar“, sagt Stratils Kollege Renke Biallas, der zweite Hauptautor des Reviews. „Manche Studien lassen zwar einen Nutzen von Maßnahmen wie Besuchsbeschränkungen, der Bildung von abgeschlossenen Gruppen oder Quarantäne vermuten, aber die Ergebnisse sind nicht zuverlässig. Wir brauchen dringend mehr und bessere Forschung.“
Daten aus Israel zur Wirkung der Auffrisch-Impfung
Aktuelle Studien-Daten aus Israel stützen, wie berichtet, die Auffrisch-Impfung gegen SARS-CoV-2. Den Autoren zufolge liefern ihre Daten klare Hinweise auf die Wirksamkeit einer Booster-Dosis auch gegen die derzeit dominierende Delta-Variante. Über ihre Studien-Daten berichten die israelischen Autoren aktuell im „New England Journal of Medicine“
In dieser Studie mit Teilnehmern, die 60 Jahre oder älter waren und mindestens 5 Monate zuvor zwei Dosen des Biontech-Impfstoffs erhalten hatten, stellten die Autoren fest, dass die Raten bestätigter COVID-19-Fälle und schwerer Erkrankungen bei denjenigen, die eine dritte Dosis) des BNT162b2-Impfstoffs erhalten hatten, deutlich niedriger waren als bei den Menschen ohne Auffrisch-Impfung.
Die Wissenschaftler analysierten Daten des israelischen Gesundheitsministeriums (Zeitraum vom 30. Juli bis 31. August 2021) zu über 1,1 Millionen Personen, die 60 Jahre alt oder älter waren und mindestens fünf Monate zuvor zwei Dosen BNT162b2 erhalten hatten. In der primären Analyse verglichen die Autoren die Rate der bestätigten COVID-19-Fälle und die Rate der schweren Erkrankungen zwischen den Personen, die mindestens 12 Tage zuvor eine Auffrischung-Impfung erhalten hatten (Booster-Gruppe), und den Personen, die keine dritte Dosis erhalten hatten (Nicht-Booster-Gruppe). In einer sekundären Analyse wurde die Infektionsrate 4 bis 6 Tage nach der Auffrischung-Impfung mit der Rate mindestens 12 Tage nach der Auffrischung-Impfung verglichen.
Mindestens 12 Tage nach der dritten Dosis war die Rate der bestätigten Infektionen in der Booster-Gruppe um den Faktor 11,3 niedriger als in der Gruppe ohne Auffrischung-Impfung; die Rate der schweren Erkrankungen war um den Faktor 19,5 niedriger. In der sekundären Analyse war die Rate der bestätigten Infektionen mindestens 12 Tage nach der Impfung um den Faktor 5,4 niedriger als die Rate nach 4 bis 6 Tagen.
Tröpfchen mit Coronaviren länger infektiös als gedacht
Winzige, mit Coronaviren beladene Tröpfchen verschwinden nach dem Ausatmen langsamer als bisherige Modelle vermuten ließen. Experimente von Wissenschaftlern der TU Wien könnten das nun erklären, teilt die Universität mit.
Bisherige Modelle gingen davon aus, dass nur große Tröpfchen eine relevante Ansteckungsgefahr mit sich bringen, weil kleine Tröpfchen schnell verdunsten. In Zusammenarbeit mit der Universität Padua konnten die Wiener Forscher um Prof. Alfredo Soldati (Institut für Strömungsmechanik und Wärmeübertragung) zeigen, dass das nicht stimmt. Die Studie wurde im Fachjournal „PNAS" publiziert.
„Wir haben festgestellt, dass kleine Tröpfchen eine Größenordnung länger in der Luft bleiben als man bisher gedacht hatte“, sagt Alfredo Soldati. „Das hat einen simplen Grund: Für die Verdunstungsrate der Tröpfchen ist nicht die durchschnittliche relative Luftfeuchtigkeit der Umgebung entscheidend, sondern die lokale Feuchtigkeit direkt am Aufenthaltsort des Tröpfchens.“ Die ausgeatmete Luft ist viel feuchter als die Umgebungsluft, und diese ausgeatmete Feuchtigkeit führt dazu, dass kleine Tröpfchen langsamer verdunsten. Wenn die ersten Tröpfchen verdunsten, führt das lokal wieder zu einer höheren Feuchtigkeit, wodurch der weitere Verdunstungsprozess anderer Tröpfchen weiter gebremst wird. „Das heißt zwar, dass kleine Tröpfchen länger infektiös sind als angenommen, aber das soll kein Grund für Pessimismus sein“, wird Alfredo Soldati in der Mitteilung zitiert. „Es zeigt uns nur, dass man solche Phänomene eben auf die korrekte Weise studieren muss, um sie zu verstehen. Nur dann können wir wissenschaftlich solide Empfehlungen machen, etwa in Bezug auf Masken und Sicherheitsabstände.“
Senolytika vielleicht eine kommende Therapie-Option
Schwere COVID-19-Verläufe sind nicht allein auf die Infektion durch SARS-CoV-2, sondern ganz wesentlich auf eine entgleiste Immunreaktion zurückzuführen. Ein Wissenschaftler-Team hat jetzt eine zelluläre Stressreaktion identifiziert, die zur Immun-Entgleisung maßgeblich beiträgt: die Seneszenz. Wirkstoffe, die seneszente Zellen gezielt entfernen, mildern COVID-19-Lungenschäden und das Ausmaß der Entzündung im Tiermodell deutlich ab. Sie könnten auch für den Menschen einen neuen Therapieansatz eröffnen. Die Studie der Wissenschaftler (Charité, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Johannes Kepler Universität Linz und Kepler Universitätsklinikum) ist im Fachmagazin „Nature“ erschienen.
Zelluläre Seneszenz ist ein Gewebe-Schutzprogramm bei Stress und drohender Schädigung: als programmierter Zellteilungsstopp schütz sie vor Krebs. Seneszente Zellen sondern außerdem entzündungsfördernde Botenstoffe ab, die für Prozesse wie die Wundheilung wichtig sind. Im Übermaß oder dauerhaft produziert, fördern diese Entzündungsvermittler allerdings altersbedingte Krankheiten wie Diabetes oder Arteriosklerose Wenig beachtet waren bisher einzelne Hinweise, dass auch eine virale Infektion Seneszenz auslösen kann. Wie. das Wissenschaftlerteam um den Onkologen Prof. Dr. Clemens Schmitt in der aktuellen Studie zeigt, trägt dieser Prozess maßgeblich zu der lawinenartigen Entzündungskaskade bei, die Lungenschäden bei COVID-19 verursacht. „Diese entzündliche Überreaktion frühzeitig mit spezifischen Wirkstoffen zu unterbrechen, hat in unseren Augen großes Potenzial, eine neue Strategie zur Behandlung von COVID-19 zu werden“, so Schmitt in einer Mitteilung.
Die Entzündungskaskade beginnt in den mit SARS-CoV-2 infizierten Zellen der oberen Atemwege. Entert das Virus die Schleimhautzellen, lösen diese als Stressreaktion ihr Seneszenz-Programm aus. Die seneszenten Schleimhautzellen produzieren dann eine Fülle entzündungsfördernder Botenstoffe, die wiederum bestimmte Immunzellen, die Makrophagen, anlocken.
Die Makrophagen wandern in die Schleimhäute ein, um die seneszenten Zellen zu beseitigen. Durch die Botenstoffe werden sie jedoch selbst in einen seneszenten Zustand versetzt und schütten ihrerseits große Mengen an Entzündungsbotenstoffen aus. Die Immunzellen können in die Lunge gelangen und dort weitere Zellen in die Seneszenz treiben – beispielsweise die besonders empfindlichen Zellen, die die kleinen Blutgefäße der Lunge auskleiden. Das veranlasst die Blutgefäß-Zellen unter anderem, blutverklumpende Stoffe abzugeben. Mikrothrombosen entstehen. Der Sauerstoffaustausch in der Lunge wird dadurch behindert.
„Offenbar ist das zelluläre Stressprogramm der Seneszenz ein sehr wichtiger Treiber eines Entzündungssturms, der eine Vielzahl charakteristischer Merkmale der COVID-19-Lungenentzündung, wie Gefäßschädigungen oder Mikrothrombosen, maßgeblich verursacht“, erklärt Dr. Soyoung Lee, Erstautorin der Studie. „Da lag es nahe zu prüfen, ob wir den Verlauf der Erkrankung abmildern können, wenn wir die durch das Virus seneszent gewordenen Zellen frühzeitig attackieren.“
Das Team untersuchte im Tiermodell den Effekt von vier Wirkstoffen, die gezielt seneszente Zellen angreifen: Navitoclax, Fisetin, Quercetin und Dasatinib. Zwei dieser Senolytika sind pflanzliche Wirkstoffe, zwei werden für die Krebstherapie genutzt bzw. getestet. Alle vier Substanzen – zum Teil allein, zum Teil in Kombination – waren bei Hamstern und Mäusen in unterschiedlichem Maße in der Lage, den Entzündungssturm zu normalisieren und die Lungenschädigung abzuschwächen. Das Forschungsteam konnte auch auf Daten von zwei kleineren klinischen Studien zurückgreifen, die bereits abgeschlossen sind. Die kombinierte Auswertung deutet an, dass eines der Senolytika auch beim Menschen die Wahrscheinlichkeit eines schweren COVID-19-Verlaufs senken konnte.
„Diese Ergebnisse sind sehr ermutigend“, sagt Schmitt. „Wie alle Wirkstoffe können die Senolytika aber Nebenwirkungen haben. Bevor man sie für eine Behandlung von COVID-19 in Betracht ziehen könnte, sind deshalb noch viele Fragen zu klären: Welche Dosis ist wirksam? Wann und für wie lange müssten die Substanzen verabreicht werden? Welche Nebenwirkungen sind damit verbunden? Und könnten ältere Menschen mehr als jüngere von den Senolytika profitieren? Denn mit dem Älterwerden stehen zunehmend mehr Zellen kurz vor dem Eintritt in die Seneszenz. Dazu sind weitere klinische Studien nötig, die verschiedene Institutionen weltweit zum Teil schon aufgesetzt haben.“
Dieser Volltext ist leider reserviert für Angehöriger medizinischer Fachkreise
Sie haben die Maximalzahl an Artikeln für unregistrierte besucher erreicht
Kostenfreier Zugang Nur für Angehörige medizinischer Fachkreise