Blaise Pascal: Ein Universalgenie deutet eine Migräne-Aura als göttliche Offenbarung


  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachrichten
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Mitten in einer Novembernacht flackert vor dem geistigen Auge des französischen Gelehrten Blaise Pascal ein Feuer auf. Überwältigt von dieser Vision glaubt er, Gott wolle ihm wie einst dem Apostel Paulus jene Wege weisen, „die das Evangelium lehrtˮ. Hatte er sich vor seinem Damaskuserlebnis mit der Pariser Hautevolee beim Glücksspiel vergnügt, so weiht er sich danach der Frömmigkeit und Askese. Hatte er davor in Mathematik und Physik brilliert, so verfasst er danach vor allem religiöse und philosophische Schriften, freilich auch sie Meisterwerke, diesmal der Prosa. Die moderne Medizin hat Pascals spirituelle Erleuchtung als eine Fehlfunktion des Gehirns entzaubert: Die Trugbilder wurden durch eine Migräne-Aura erzeugt, wie ein italienischer Neurologe darlegt.[1]

Das Universalgenie Blaise Pascal, 1623 in Clermont-Ferrand geboren, geriet durch das breite Spektrum seiner Betätigungen ins Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Weltflucht und Politik.[2]

Seine außergewöhnlichen Leistungen habe er seiner kläglichen Gesundheit abgetrotzt, erläutert Prof. Dr. Maurizio Paciaroni von der Universität Perugia. Von Kind an Pascal kränklich und hypersensibel, seit dem 17. Lebensjahr schläft er schlecht und leidet an Dyspepsie. Als Ursache der Verdauungsstörungen vermuten Experten ein Magengeschwür und schließlich Magenkrebs, da die Obduktion nach seinem Tod entsprechende Anzeichen ergibt. Entdeckt wird außerdem eine schwere Hirnläsion, wahrscheinlich eine karzinomatöse Meningitis und Ursache der Kopfschmerzen, die ihn seit dem 20. Lebensjahr plagen.

Branntwein-getränkte Strümpfe

Weiterhin machen ihm eigentümliche Nervenleiden zu schaffen, weshalb er kaum einen Tag ohne Schmerzen verbringt und manche Zeitgenossen ihm sogar eine Geisteskrankheit unterstellen. Zum Beispiel befällt ihn mit 24 Jahren eine Lähmung, so dass er nur noch mit Krücken gehen kann. Er ist schnell erschöpft, neigt zur Hypochondrie und hat diverse Phobien mit Halluzinationen. Weil seine Eingeweide brennen, seine Beine jedoch eiskalt sind, ersinnt er Maßnahmen, um seinen Kreislauf anzukurbeln, zum Beispiel tränkt er seine Strümpfe mit Branntwein, um seine Füße zu wärmen.

Seine Beschwerden, in einer Publikation von 1899 als Neurasthenie diagnostiziert, machen ihn reizbar, er bekommt Anfälle von stolzer, herrischer Wut und lächelt bald nur noch selten.

Ein kurzes, aber produktives Leben

Pascals Mutter stirbt, als er 3 Jahre alt ist, sein Vater, ein hochrangiger Jurist und Finanzbeamter, erzieht ihn nach den pädagogischen Maximen Montaignes und unterrichtet ihn auch selbst. 1631 übersiedelt er mit dem hochbegabten Sohn und den beiden Töchtern nach Paris, um sie besser fördern. Der Junge beschäftigt sich vor allem mit Geometrie - ohne Anleitung, da aus pädagogischen Gründen sämtliche Mathematikbücher aus dem Haus verbannt wurden. Als Zwölfjähriger beweist er Lehrsätze Euklids, etwa dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180 Grad beträgt.

In Paris schließt sich der Jugendliche einem Kreis von Mathematikern und Naturforschern an, die er 1640 mit einer Abhandlung über Kegelschnitte beeindruckt.[3] René Descartes, ebenfalls eine Mathematik- und Philosophie-Koryphäe jenes Jahrhunderts, weigert sich zu glauben, dass dieses wegweisende Theorem der projektiven Geometrie von einem 17-Jährigen stammt.

Die „Pascaline" beherrschte Plus und Minus

Um diese Zeit muss die Familie aus Paris fliehen, weil der Vater des Protests gegen den staatlichen Zinsbetrug verdächtigt wird. Richelieu begnadigt ihn jedoch ein Jahr später, da er auf die Talente der Familie nicht verzichten möchte, und beordert ihn zum obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen. Um dem Vater bei seinen Kalkulationen zu helfen, tüftelt der Sohn zehn Jahre lang an einer der ältesten Rechenmaschinen, der „Pascalineˮ. Er erhält ein Patent, doch den erhofften Reichtum bringen ihm die Erfindung und eine eigene Firma nicht - die mühsam handgefertigten ungefähr fünfzig Exemplare mit ihren Zahnrädern sind zu teuer und störanfällig.

Auf das Jahr 1646 datiert Pascals erste Bekehrung: Durch einen Unfall des Vaters lernt die Familie Jansenisten kennen, Anhänger eines häretischen Fundamentalismus innerhalb der katholischen Kirche. Sie lehren, dass die mit der Erbsünde beladenen Menschen ihre Erlösung nicht durch gute Taten herbeizwingen können, sondern völlig der Willkür Gottes ausgeliefert sind. Gleichwohl betonen sie die Bedeutung eines Lebensstils im Einklang mit dem Glauben. Pascal übt sich nun in Askese, zumal er seine Krankheiten als göttliches Warnsignal interpretiert, er kasteit sich mit rigider Diät, martert sich mit einem Stachelgürtel. Zudem treibt er seinen Eifer so weit, einen vermeintlich nicht rechtgläubigen Kapuziner beim Bischof anzuschwärzen.

Die erste Bekehrung hält nicht lange vor

Nachdem der Vater 1651 gestorben und die Schwester Jacqueline trotz seines Widerstands ins streng jansenistische Kloster Port Royal bei Paris eingetreten ist, beginnt Pascals mondäne Periode. Auf sich allein gestellt, mischt er sich unter die Pariser Gesellschaft, verkehrt in einem schöngeistigen Salon und beschäftigt sich mit Belletristik. Da der Adel die Zeit gern mit Glücksspiel totschlägt, drehen sich viele Diskussionen um die Gewinnchancen. Das regt Pascal an, zusammen mit Pierre de Fermat die Wahrscheinlichkeitstheorie zu entwickeln, eine Grundlage der Statistik. Probleme dieser Theorie löst er mit dem nach ihm benannten Dreieck (eine grafische Darstellung der Binomialkoeffizienten): Jeder Eintrag ist die Summe der beiden darüberstehenden Zahlen.

Zur Infinitesimalrechnung trägt Pascal ebenfalls Grundlegendes bei, besonders zur Differentialrechnung, etwa indem er die Ableitung geometrisch als die Steigung einer Tangente an einer Kurve interpretiert. Darüber hinaus entwickelt er ein Verfahren zur Lösung von Differentialgleichungen, als „Methode von Pascalˮ bekannt.

Die Natur hegt keinen „horror vacuiˮ

Auch Erkenntnisse in der Physik zählen zu seinen Verdiensten - gehört er doch zur Avantgarde jener, die das Experiment in die Wissenschaft einführen. So formuliert er das nach ihm benannte Gesetz der Hydrostatik, wonach sich in kommunizierenden Röhren - unabhängig von deren Form (schmal, breit, trichterförmig etc.) - derselbe Flüssigkeitspegel einstellt. Außerdem bestätigt er die Versuche Torricellis, der das Barometer erfand, als er nachweisen konnte: Luft besitzt ein Gewicht, erzeugt also einen Druck und damit in einer Quecksilbersäule ein Vakuum.

Mit diesen Resultaten ruft Pascal wieder einmal den Unglauben seines Konkurrenten Descartes auf den Plan. Der bestreitet, dass in der Natur ein leerer Raum existiert - mit Rückendeckung der aristotelischen Theorie vom „horror vacuiˮ. Als er Pascal im September 1647 besucht, entzündet sich zwischen beiden darüber eine Kontroverse, sehr zur Enttäuschung seines Gastgebers, der sich medizinischen Rat erhofft hat. Descartes wird anschließend dem niederländischen Physiker Christiaan Huygens abfällig schreiben, Pascal habe „zu viel Vakuum im Kopfˮ.

Descartes als teilnahmsvoller Arzt

Am nächsten Morgen kehrt er jedoch zurück - nun doch als Arzt. Drei Stunden hört er dem Leidenden zu, untersucht ihn, verordnet Suppe und Ruhe, meint allerdings auch, wenn er aus dem Bett aufstünde, wäre er fast gesund. Diesmal ist Pascal der Ungläubige, würdigt ihn aber in seinen Erinnerungen als höchsten Rationalisten und nachdenklichen Medicus. Später wird er allerdings die vielzitierte Weisheit notieren: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kenntˮ. Damit widerspricht er Descartes' Auffassung, dass die Vernunft die Oberhand besitze und metaphysische Probleme zu lösen imstande sei.

Im Herbst 1654 nähert sich Pascal, von einer depressiven Verstimmung erfasst, seiner Schwester Jacqueline wieder an und bricht mit seinen vornehmen Freunden. Bald folgt seine zweite Bekehrung - diesmal ein endgültiger Wendepunkt, denn von da an widmet er sich hauptsächlich der Religion und Philosophie. Auslöser ist eine Lichterscheinung, die ihn - ähnlich wie Hildegard von Bingen bei ihren religiösen Visionen - von der Realität Gottes überzeugt.

Eine „Augenmigräneˮ sendet ein göttliches Feuer

Noch in der derselben Nacht hält er sein Erlebnis schriftlich in stammelnden Worten, Ausrufen und Gedankenstrichen fest: „Jahr der Gnade 1654, Montag, den 23. November ... Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht/Feuer/Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten./Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi ...ˮ Um dieser mystischen Erfahrung immer eingedenk zu sein, näht er das Stück Pergament in seinen Rocksaum ein, wo ein Diener es nach seinem Tod zufällig findet - als „Mémorialˮ ist es der Nachwelt erhalten geblieben.

Der Ophthalmologe René Onfray hat das bizarre Geschehen 1926 in einer Publikation um einiges profaner gedeutet: als Aura mit den typischen Sehstörungen, darunter Skotome, blinde Flecken, Schleier oder Schlieren, Blitze, Flimmern oder Zickzacklinien, die sich ausbreiten oder an den Rändern farbig schillern, bis hin zu Doppel- und Wahnbildern. Solche Eindrücke können auch isoliert, also ohne nachfolgende Schmerzen auftreten („Augenmigräneˮ).

Störungen in der Sehrinde, aber zurechnungsfähig

Onfray erwähnt weitere Hinweise, dass Pascal des öfteren von einer Aura heimgesucht wird: In seinen Manuskripten hat er auf manchen Seiten rechts einen auffällig breiten Rand freigelassen, zudem ist die Handschrift dort schlecht bis unleserlich. Mit der Diagnose „homonyme Hemianopsieˮ (Gesichtsfeldausfall der jeweils rechten Hälfte beider Augen) entkräftet Onfray zugleich den immer wieder erhobenen Verdacht, Pascal sei geistesgestört gewesen.

In den „Gedanken über die Religionˮ glaubt der Ophthalmologe sogar einen „absoluten Beweisˮ für seine Aura-Hypothese gefunden zu haben: „Auf Seite 20 des Manuskripts stehen keine Worte, sie enthält nur eine Skizze: oben rechts Zickzacklinien, wie sie Migränepatienten sehen, darunter Zeichen und Balken, die an die tanzenden Buchstaben und leuchtenden Flecken erinnern, wie sie im verdunkelten Gesichtsfeld zu Beginn eines Anfalls herumflattern.ˮ

Der Schock am Rand des Abgrunds

Zu Pascals Erweckungserlebnis könnte ein psychisches Trauma durch ein lebensgefährliches Unglück vier Jahre zuvor beigetragen haben: Auf einer Brücke über die Seine scheuen die Pferde, so dass die Kutsche, in der er sitzt, halb über der Tiefe hängt und um ein Haar hinuntergestürzt wäre. Obwohl er unverletzt gerettet wird, quält ihn danach die fixe Idee, neben ihm tue sich ein Hohlraum oder Abgrund auf, um ihn zu verschlingen. Bei solchen Phantasmagorien könnte es ebenfalls um Migräne-Phänomene handeln, wie Onfray in seinem Buch „L'Abîme de Pascalˮ von 1949 spekuliert.

Darüber hinaus meint Onfray, die Migräne und allgemein die schlechte Gesundheit hätten die philosophischen Reflexionen beeinflusst. Das schließt er aus Sätzen wie: „Siechtum ist der natürliche Zustand der Christenˮ. Gleichzeitig versucht Pascal, seinen Schmerzen einen Sinn zu entlocken, wie sein „Gebet um den guten Gebrauch der Krankheitˮ von 1659 bezeugt.

Wortgewandte Polemik gegen Toleranz

Wie schon nach der ersten glaubt er auch nach der erneuten Erweckung, seine religiöse Passion demonstrieren zu sollen: mit den polemisch-satirischen „Provincialesˮ, Briefen eines fiktiven Pariser Bürgers an einen Freund in der Provinz. Indem er sich in einen Streit über Gnade und Freiheit einmischt, ergreift er anonym Partei für die rigoros moralischen Jansenisten gegen die großzügigeren Jesuiten. Wegen ihrer glänzenden Rhetorik, ihres eleganten, leicht verständlichen Französisch (nicht Latein!) werden die Traktate sofort zu einem Erfolg und bald zu Klassikern der Literatur.

Gesundheitlich geht es nun immer rascher bergab, sicher auch weil seine erbarmungslos spartanische Lebensweise ihn zusätzlich schwächt. Vor allem seine Magenkrankheit verschlimmert sich derart, dass er nur noch gelegentlich warme Milch zu sich nehmen und vor Schwäche kaum lesen und schreiben kann. Trotzdem beteiligt er sich noch im Todesjahr 1662 an der Gründung eines gemeinnützigen Droschkenunternehmens (Les carrosses à cinq sous), das den Beginn des öffentlichen Nahverkehrs markiert, damals jedoch bald scheitert. Außerdem arbeitet er noch an einem Buch über christliche Apologetik.

Wette gegen die Dummheit des Unglaubens

Am 18. August windet er sich in Krämpfen, am nächsten Morgen stirbt er. „Möge Gott mich niemals verlassen“ sollen seine letzten Worte gewesen sein. Ob sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist und er also seine eigene so berühmte wie heftig kritisierte Wette gewonnen hat?

Darin beweist er den Skeptikern, wie klug es ist, nach dem ökonomischen Prinzip der Kosten-Nutzen-Maximierung, fromm zu sein - weil die Belohnung den Einsatz bei weitem übersteigt. Denn glaubt man an Gott, und es gibt ihn, darf man sich für immer im Paradies amüsieren. Glaubt man jedoch nicht, und Gott existiert, tja, dann schmort man auf ewig im Feuer, das der Teufel schürt. Bei den anderen beiden Möglichkeiten - Glauben bei Nicht-Existenz, Unglauben bei Nicht-Existenz - muss man zumindest keinen Verlust hinnehmen.

Mit anderen Worten: Hier jongliert ein Wahrscheinlichkeitsmathematiker ganz nüchtern mit dem Weiterleben im Jenseits, hier spielt ein Hasardeur um Himmel und Hölle - ohne zu beachten, das wesentlich mehr als nur vier Konstellationen denkbar sind, etwa dass Gott Menschen bestraft, die ihn bloß um des Vorteils willen wählen. Wenn auch die Drohung mit der ewigen Verdammnis Erpressung ist: Topp, die Wette gilt! Schade nur, dass noch nie ein Mensch erfahren hat, wie sie ausgegangen ist.