„Ärzte haben die Pflicht, auch den Feind zu behandeln“
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Von Prof. Dr. med. Daniela Ovadia
Das Thema wurde in der letzten Zeit in Chats und sozialen Medien, insbesondere hier in Europa, diskutiert. Der Krieg ist jetzt Teil unseres täglichen Lebens. Wir alle helfen ukrainischen Flüchtlingen, stellen eine medizinische Grundversorgung bereit, öffnen unsere Häuser, um sie aufzunehmen, sammeln Waren und Medikamente, um sie an die Grenzen der Ukraine zu schicken, wo sich jetzt Tausende von Flüchtlingen stapeln. Wir alle wissen, dass es Opfer und Aggressoren gibt.
Wenn ich solche schwierigen Fragen beantworten muss, bin ich froh, mich für das Studium und die Lehre der Ethik und Bioethik entschieden zu haben. Schaubilder, Leitlinien und ethische Erklärungen funktionieren gut als “moralisches Exoskelett”, das mir hilft, die höchsten Werte der Medizin zu berücksichtigen, selbst wenn diese Werte sehr schwierige moralische Grenzen setzen und manchmal mit meinem Bauchgefühl kollidieren.
Die Genfer Konventionen (vier Verträge, die 1949, am Ende des Zweiten Weltkriegs, unterzeichnet wurden, und drei Zusatzprotokolle, die 1977 unterzeichnet wurden) haben internationale rechtliche Standards für die humanitäre Behandlung in Kriegszeiten festgelegt, einschließlich der medizinischen Hilfe. Sie gewährleisten den Schutz von Verwundeten und Kranken sowie der Zivilbevölkerung in und um ein Kriegsgebiet.
Selbstverständlich zielen die Genfer Konventionen in erster Linie darauf ab, diejenigen, die angegriffen werden, vor der Grausamkeit des Aggressors zu schützen; es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass die russischen Militäraktionen gegen die Regeln der Genfer Konventionen verstoßen, indem Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen angegriffen werden.
Schutzbestimmungen gelten auch für Soldaten in Not
Doch erlaubt dies der internationalen medizinischen „Community“, die Verbindungen mit dem russischen Gesundheitssystem zu kappen und die Arzneimittelhersteller und die Gesundheitsindustrie daran zu hindern, ihre Produkte in das Land des Aggressors zu schicken? Meiner Ansicht nach lautet die Antwort nein. Die Genfer Konventionen besagen, dass die Schutzbestimmungen für Zivilisten in jedem Land, das in einen Krieg verwickelt ist, und sogar für Soldaten in Not gelten, sobald sie verwundet sind oder das Schlachtfeld verlassen.
Selbst wenn wir uns nur auf die klassischen bioethischen Theorien von Wohltätigkeit und dem Nicht-Schaden durch medizinisches Handeln (Non-Maleficence) stützen wollen, könnten wir in Schwierigkeiten geraten, wenn wir zum Zusammenbruch des russischen Gesundheitssystems beitragen – mit dem Ziel, die russische Regierung unter Druck zu setzen, den Krieg zu beenden. Russland ist ein sehr großes Land, das bereits von großen Ungleichheiten im Gesundheitsbereich betroffen ist. Wie ein russischer Journalist in einem Artikel auf Univadis.it beschreibt, führt der Wirtschaftsboykott bereits zu einer Verknappung lebensrettender Güter wie Medikamenten für Krebstherapien und diagnostischen Verfahren.
Es ist leicht vorhersagbar, dass die Zahl der vermeidbaren Todesfälle schnell steigen wird. Wir haben bereits während der Pandemie einen deutlichen Anstieg der Sterberate in den westlichen Industrieländern gesehen, als der Zugang zu präventiven Maßnahmen und zu Behandlungen beeinträchtigt worden ist. Wir gehen davon aus, dass die Sanktionen ähnliche Auswirkungen haben werden; wahrscheinlich nehmen unsere politischen Entscheidungsträger an, dass sie die russischen Bürger zum Aufstand gegen den Kriegsverbrecher, der das Land regiert, bewegen werden. Nach der modernen Bioethik haben politische Entscheidungsträger jedoch eine andere Rolle und ein anderes ethischen „Gerüst“ als Ärzte und medizinisches Personal.
Die Interessen der Menschen haben Vorrang vor den Interessen der Wissenschaft oder der Gesellschaft
Das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (besser bekannt als Oviedo-Konvention), das 1997 vom Europarat unterzeichnet wurde, ist der erste rechtsverbindliche internationale Text, der Würde, Rechte und Freiheiten des Menschen durch Grundsätze und Verbote vor dem Missbrauch medizinischer Fortschritte bewahren soll. Ausgangspunkt der Konvention ist, dass die Interessen des Menschen Vorrang vor den Interessen der Wissenschaft oder der Gesellschaft haben müssen.
Die Konvention stützt sich auf die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und insbesondere auf die Artikel 22 bis 27; sie regeln die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Individuums, einschließlich der Gesundheitsversorgung. Sie beziehen sich insbesondere auf die Betreuung von Müttern und Kindern.
Jeder Mensch hat das Recht, behandelt zu werden
Das Übereinkommen von Oviedo enthält mehrere Grundsätze und Verbote in Bezug auf Bioethik, medizinische Forschung, Einwilligung, Recht auf Privatleben und Information usw. Vor allem aber legt es den Grundsatz fest, dass jeder Mensch das Recht hat, behandelt zu werden, wenn er krank ist, und dass es die Pflicht eines jeden Arztes ist, jeden, der in Not ist, zu behandeln, ohne zu fragen und ohne moralische Urteile abzugeben.
Dies ist ein wichtiger, zukunftsträchtiger Grundsatz der modernen Bioethik, der auch in anderen Dokumenten verankert ist, etwa in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, die erstmals von der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes im Juni 1964 verabschiedet und mehrfach geändert wurde (zuletzt 2013). Sowohl die Konvention von Oviedo als auch die Deklaration von Helsinki dienen hauptsächlich dem Schutz des Menschen in der medizinischen Forschung.
Wer eine klinische Studie beginnt, hat die Pflicht, sie zu Ende zu führen
Dies ist auch ein Problem, mit dem sich die medizinische Community und die Arzneimittelhersteller auseinandersetzen müssen, wenn sie wirklich jede Zusammenarbeit mit der russischen Wissenschafts-Gemeinde beenden wollen; denn der modernen Bioethik zufolge haben diejenigen, die eine klinische Studie beginnen, die Pflicht, sie zu Ende zu führen; zudem haben sie die Pflicht, den rekrutierten Patienten weiterhin eine angemessene Behandlung auch im Falle eines Abbruchs der Studie anzubieten, unabhängig von den Gründen für den Abbruch.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sanktionen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung eines Landes haben. In den 80er Jahren wirkte sich der wissenschaftliche Boykott Südafrikas auch auf die Gesundheit der südafrikanischen Bürger aus, auch wenn Medikamente und medizinische Güter nicht unter das Handelsverbot fielen. Interne Befürworter der Sanktionen, wie die National Medical and Dental Association (NMDA), eine der wichtigsten medizinischen Anti-Apartheid-Organisationen, erörterten Möglichkeiten, die Wirtschaftssanktionen zu unterstützen und gleichzeitig die Schwächsten vor den Belastungen zu schützen, die sich aus dieser Politik ergaben.
Der Feind als Patient: Was kann man aus dem emotionalen Erleben von Ärzten lernen?
Der "Feind als Patient” und die Frage, was wir aus ethischer Sicht aus den Erfahrungen von Ärzten lernen können, die sich mit der Behandlung ihrer Feinde befassen, waren Gegenstand einer sehr interessanten aktuellen Studie von Rubinstein und Bentwitch. Es handelt sich um eine quantitative Analyse der impliziten Voreingenommenheit israelischer Ärzte, die sowohl verwundete syrische Soldaten als auch palästinensische zivile Terroristen behandeln.
Die Ergebnisse zeigen, dass die israelischen Ärzte gegenüber den palästinensischen Zivilisten voreingenommener sind; der interessanteste Kommentar ist meiner Meinung nach allerdings der, den die Autoren der Zusammenfassung hinzugefügt haben:
„Ein Mangel [an Empathie gegenüber bestimmten Arten von Feinden] untergräbt den Grundsatz der Wohltätigkeit und beeinflusst dadurch möglicherweise die Erfüllung der Pflicht, Patienten zu behandeln. Die Anerkennung und die Bewältigung möglicher emotionaler und ethischer Defizite bei Begegnungen mit so genannten feindlichen Patienten sind für die globale medizinische Community von Bedeutung, da solche Begegnungen zunehmend ein integraler Bestandteil der aktuellen politischen Realitäten sind, mit denen sich sowohl die Industrieländer als auch die Entwicklungsländer konfrontiert sehen”.
Ein wissenschaftlicher Boykott muss präzise Bedingungen erfüllen
Kann die medizinische Community demnach Sanktionen oder Boykottmaßnahmen nicht unterstützen? Meiner Meinung nach finden wir eine gute Antwort in einer Erklärung über den moralischen Status des wissenschaftlichen Boykotts im Allgemeinen, die 2003 von einer Gruppe von Wissenschaftlern im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde. Nach Ansicht der Autoren, zu denen auch Colin Blackmore und Richard Dawkins gehören, muss ein wissenschaftlicher Boykott präzise Bedingungen erfüllen, darunter eine ausdrückliche und weithin geteilte Einschätzung, dass es sich lohnt, den Grundsatz der Universalität der Wissenschaft für einen bestimmten, überwältigenden Vorteil aufzugeben.
Wir müssen sicher sein, dass der Boykott tatsächlich dazu beiträgt, das “inakzeptable Verhalten eines Regimes” zu ändern, denn er ist “nicht nur eine politische Geste”. Nicht zuletzt sollte der Boykott “Teil eines international vereinbarten Programms von Maßnahmen sein, die das kollektive Entsetzen über ein Regime zum Ausdruck bringen und notwendig sind, um eine vorhersehbare Katastrophe abzuwenden”, um eine Entscheidung zu vermeiden, die auf Vergeltung statt auf Wohltätigkeit ausgerichtet ist.
Im Falle des russischen Handelsverbots müssen diese Maßnahmen in erster Linie zur Unterstützung der Ukraine, aber auch der russischen Zivilbevölkerung ergriffen werden, vielleicht durch international unterstützte Programme, um zumindest die lebensrettende Versorgung sicherzustellen.
„Zu Ehren des Wissens, das ich von meinen Lehrern erhalten habe, schwöre ich, mich um jeden zu kümmern, der leidet, ob Fürst oder Sklave“.
Der Eid des Hippokrates
Daniela Ovadia unterrichtet Forschungsethik an der Universität von Pavia (Italien) und arbeitet zudem als Wissenschaftsjournalistin.
Der Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
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