AOK-Analyse: Jedes zweite verordnete Antibiotikum ist ein Reserveantibiotikum

  • Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO)

  • von Andrea Hertlein
  • Medizinische Nachrichten
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Kernbotschaft

Im Jahr 2019 wurden knapp 18 Millionen Verordnungen von Reserveantibiotika für gesetzlich versicherte Patienten ausgestellt. Damit entfiel mehr als jede zweite Antibiotikaverordnung auf ein Reserveantibiotikum. Jeder sechste Versicherte hat mindestens einmal ein solches Medikament erhalten. Das geht aus einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor.

„Die Verordnungen von Antibiotika der Reserve sind in den letzten Jahren zwar leicht rückläufig, aber ihr Anteil lag auch 2019 wieder besorgniserregend hoch“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer der WIdO. So fielen im letzten Jahr laut WidO-Auswertung insgesamt 34 Millionen Verordnungen auf Antibiotika. Das entspricht etwa jeder 20. ambulanten Verordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Anteil von Reserveantibiotika in Deutschland so hoch wie vor 20 Jahren

Wie aus den Berechnungen weiter hervorgeht, entfielen 53 Prozent dieser Verordnungen auf die Reserveantibiotika; auf Basis der Alters- und Geschlechtsprofile der AOK-versicherten Patienten wurden im vergangenen Jahr 12,1 Millionen GKV-Versicherte mindestens einmal mit einem Reserveantibiotikum therapiert – also jeder sechste GKV-Versicherte (16,4 Prozent).

Damit liege der Verordnungsanteil immer noch so hoch wie zur Jahrtausendwende – und das, obwohl man davon ausgehen kann, dass im ambulanten Bereich üblicherweise vergleichsweise harmlose Infektionen behandelt werden, so Schröder. Das kritische Hinterfragen jeder Antibiotikaverordnung und ein rationaler, leitlinienkonformer Einsatz von Reserveantibiotika sei daher weiter angezeigt.

670 Tonnen Antibiotika in der Tierhaltung

Das Institut weist darauf hin, dass der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung das Problem verstärke, da die Wirkstoffe in die Nahrungskette der Konsumenten gelangen. Der Vergleich der Antibiotikamengen in Tonnen zeige laut WIdO , dass „die ambulanten Verordnungen in der Humanmedizin nur die Spitze des Eisbergs darstellen“. Während im Jahr 2019 rund 339 Tonnen Antibiotika der Versorgung von Patienten in Deutschland dienten, waren es in der heimischen Tierhaltung (Fleisch- und Milchproduktion sowie Fischzucht) rund 670 Tonnen. Insgesamt wurden laut Analyse damit 2019 bei Mensch und Tier über 1.000 Tonnen Antibiotika eingesetzt, darunter mindestens 376 Tonnen Reserveantibiotika.

Nur acht neue antibiotische Wirkstoffe in den letzten zehnJahren

Neben einer behutsameren Verordnung in der Human- und Tiermedizin werden auch Wirkstoffe mit neuen Wirkprinzipien benötigt, die in der Lage sind, die vorhandenen Resistenzen zu überwinden, betont das Institut. Doch hier scheine laut WIdO der betriebswirtschaftliche Anreiz zu fehlen: Unter den 316 neuen Wirkstoffen, die die pharmazeutische Industrie in den letzten zehn Jahren in Deutschland auf den Markt gebracht hat, seien jedoch nur acht neue antibiotische Wirkstoffe gewesen.

Schröder: „Im Bereich der Antibiotikaforschung wird in der Wissenschaft über eine grundsätzlich öffentliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung diskutiert: Die pharmazeutische Industrie könnte dann im Rahmen von Lizensierungsmodellen die Produktion und den Vertrieb übernehmen.“