Adipositas: keineswegs nur ein „Lifestyle-Problem“

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Berlin (pag)­ – Ist der Kipppunkt beim Körpergewicht erst einmal überschritten, greifen Mechanismen, die es einem adipösen Menschen kaum mehr möglich machen, dauerhaft Gewichtsreduktion zu erreichen. Der Frage, welche Kosten Adipositas samt Folgeerkrankungen verursacht, ist Prof. Klaus Nagels in einem Gutachten nachgegangen. Ein spannender Gesprächspartner zu Adipositas ist er auch deshalb, weil er pharmazeutischen Sachverstand mitbringt.

 

Univadis: Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit den gesundheits- und sozioökonomischen Aspekten komplexer Erkrankungsbilder und ihrer Versorgung. Warum wird die Volkskrankheit Adipositas aus Ihrer Sicht in Deutschland so stiefmütterlich behandelt?

 

Nagels: Das hat mehrere Gründe. Aus der Perspektive einiger Akteure in unserem Gesundheitssystem erscheint die Einstufung der Adipositas als eigenständiges Erkrankungsbild als eine Herausforderung. International ist das geklärt. Die multiplen Ursachen sind transparent. Mit der klinischen Tragweite der dringlichen Behandlungsbedürftigkeit fortgeschrittener Adipositas tut man sich dennoch schwer. Das gilt weniger für die klinischen Leistungserbringer und mehr für die Kostenträger sowie die Systemebene. Beispielsweise ist die Adipositas im neuen ICD-11 unter Ernährungsstörungen eingeordnet. Das greift aber zu kurz. Adipositas bewirkt kausal gravierende Folgeerkrankungen. Man geht eher von einem „Lifestyle-Problem“ aus. Die eher neutrale Konnotation von „Lifestyle“ im Angelsächsischen bringt man hierzulande tendenziell mit Krankheitsferne in Verbindung. Etwas, das jedenfalls keiner Behandlung zu Lasten der GKV bedarf. All das wirkt sich auf die Versorgung Betroffener aus.

 

Univadis: Zum Thema wird Adipositas zumeist erst wegen einer ausgelösten Folgeerkrankung. Warum wird der richtige Zeitpunkt verpasst?

 

Nagels: Die Grenzen zwischen Übergewicht und beginnender Adipositas sind erst einmal unscharf. Das wirkt sich auf die Versorgung aus. Es bleibt eine Chance durch verändertes Essverhalten, physische Aktivitätssteigerung sowie gesunde Lebensführung wieder eine Normalgewichtigkeit zu erreichen. Aber es gibt einen Kipppunkt, den „Tipping Point“, der oberhalb eines BMI von etwa 30 verortet werden kann, auch wenn es sicherlich individuelle und genderspezifische Schwankungsbreiten gibt. Dennoch: Wird dieser Kipppunkt überschritten, ist für die überwiegende Zahl von Patienten ohne ärztliche Behandlung eine Rückkehr in die Zone der Normalgewichtigkeit ausgeschlossen.

 

Univadis: Erwiesenermaßen?

 

Nagels: Das ist evidenzbasiert belegt und erklärbar. Neue Erkenntnisse der internationalen Forschung zeigen deutlich, dass nach Überschreiten dieses individuellen Kipppunktes körpereigene Gegenregulationsmechanismen, die physiologisch auf der Steuerungsachse zwischen Zentralem Nervensystem und Gastrointestinaltrakt angelegt sind, so weitgehend gestört sind, dass sich kein Sättigungsgefühl mehr einstellen kann. Die Evidenz für kausale Zusammenhänge ist auf der molekularen Ebene angekommen. Genetische und epigenetische Ursachen belegen und erklären die Kausalitäten. Nach Erreichen des Kipppunktes steigt das Mortalitätsrisiko aufgrund der erwähnten Folgeerkrankungen deutlich an. Für jüngere Menschen ist das Mortalitätsrisiko dabei deutlich höher als bei älteren Menschen, die eine manifeste Adipositas ausbilden. Mit steigenden BMI nimmt dieses Risiko einen exponentiellen Verlauf an. Das wissen wir seit langem aus internationalen epidemiologischen Studien. Gesellschaftlich ist das fatal, da diese Menschen irgendwann krankheitsbedingt keine gesellschaftlichen Beiträge mehr leisten können.

 

Univadis: Die Zahlen und Fakten, die vom Robert Koch-Institut (RKI) zu Adipositas zur Verfügung gestellt werden, stammen aus dem Jahr 2015. Die Auswirkungen der Pandemie auf die steigende Zahl der an Adipositas Erkrankten sind nur zu vermuten. Warum haben wir so wenig Zahlen?

 

Nagels: Selbst diese Daten waren ja Schätzungen. Mit detaillierten und strukturierten Daten zu Gesundheit und Versorgung tun wir uns in Deutschland schwer. Belastbare und zahlenbasierte Transparenz ist keine Kernkompetenz unseres Gesundheitssystems. Im Ökosystem Gesundheit ist eine solche Transparenz offenbar nicht gewollt, sonst hätten wir sie ja. Es dauert lange, bis man die geeigneten Kennzahlen identifiziert hat. Aktualisierungen erfolgen nicht regelmäßig oder zumindest nicht nach erkennbarem Muster. Über die Jahre ändern sich Berechnungsgrundlagen und wichtige Zeitreihenanalyse sind kaum in einer Form möglich, die wissenschaftlich geboten wäre. Gerade bei solchen Erkrankungen wie der Adipositas wird die Systemsteuerung zum Nachtflug mit Navigationsinstrumenten, die keine verlässlichen Daten anzeigen.

 

Univadis: Eine Untersuchung der EU-Staaten aus dem Jahr 2019 hat aufgedeckt, dass Deutschland am meisten für die Folgeerkrankungen von Übergewicht und Adipositas ausgeben muss. Woran liegt das?

 

Nagels: Zum einen hat die OECD publiziert, dass Deutschland gemeinsam mit Mexiko und den USA besonders von der Adipositas-„Pandemie“ betroffen ist. Zum anderen haben wir bei der Behandlung viele Schwachstellen. Die Zugänge zur Basistherapie, zu Arzneimitteltherapien und zur bariatrischen Chirurgie sind auch im europäischen Vergleich deutlich niedriger.

 

Univadis: Sie haben gerade eine gesundheitsökonomische Untersuchung vorgelegt, in der gezeigt wird, was uns Übergewicht und Adipositas volkswirtschaftlich kosten. Das ist erschreckend. Welche direkten Kosten entstehen der Gesellschaft nach Ihrer Berechnung aus Übergewicht und Adipositas?

 

Nagels: Damit wir angesichts der Datenlage zu aussagekräftigen und nachvollziehbaren Zahlen kommen, haben wir viele Quellen, Studien, Reports und Statistiken einbezogen. Man kann sagen, dass unsere Ergebnisse eher konservativ, also eher niedrig berechnet sind. Danach liegen die direkten Kosten für Adipositas bei 19,4 Milliarden Euro jährlich. Die der Adipositas zurechenbaren Kosten durch Folgeerkrankungen liegen bei 11,1 Milliarden Euro. Und die indirekten Kosten durch Arbeitsunfähigkeit oder Behinderung bei rund 10,8 Milliarden Euro im Jahr. Volkswirtschaftlich sind das sehr relevante Zahlen.

 

  • Adipositas kostet demnach jedes Jahr über 40 Milliarden Euro. Welche Maßnahmen sollten daraus abgeleitet werden?
  • Dringlicher Handlungsbedarf: Zugänge weiter öffnen und in die Behandlungsoptionen investieren. Insbesondere die deutlich wirksameren Arzneimitteltherapien eröffnen Perspektiven und sind machbar. Digitale Anwendungen sind wohl eher nicht mit einem signifikanten Potenzial gekennzeichnet.
  • Wie kann konsequent und objektiv gemessen werden, welche Maßnahmen erfolgreich sind bei Prävention, medikamentöser oder chirurgischer Intervention?

 

Nagels: Hierfür sind unter anderem die Methoden der evidenzbasierten Medizin, der klinischen Epidemiologie und der Gesundheitsökonomie anzuwenden. Dabei gilt: Die Güte der klinischen Daten bestimmt die Güte der gesundheitsökonomischen Analysen. Entsprechende Erfolgsmessungen gelingen für die gesamte Spannbreite von Prävention bis zur chirurgischen Intervention. Zunächst kann die Evidenz für die Interventionen mit experimentellen klinischen Studien erhoben werden. Das Studiendesign bestimmt dabei den erreichbaren Grad der Evidenz. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse bleibt aber begrenzt, da es zunächst um die grundsätzliche Wirksamkeit und Anwendungssicherheit geht.

 

Univadis: Und was bedeutet dieser akademische Methodenüberbau für die Praxis?

 

Nagels: In der Versorgungspraxis kann und muss die Erfolgsmessung sehr viel breiter erfolgen. Über große Stichprobenumfänge können die Effekte auch zum Beispiel für multimorbide Patienten und ältere Patienten bestimmt werden, die bei experimentellen Ansätzen regelmäßig nicht berücksichtigt werden. Gendermedizinische Unterschiede, die gerade bei der Adipositas hochrelevant sind, werden besser zugänglich. Die Digitalisierung wird neue zeitnahe Erfolgsmessungen erlauben, wenn uns die Implementierung gelingt.

 

Univadis: Noch einmal zurück: Was wissen wir über die Maßnahmen? Was bringen chirurgische Eingriffe, Medikamente & Co.?

 

Nagels: Mit Blick auf den heutigen Stand der Wissenschaft haben wir für einige Interventionen international einen guten Erkenntnisstand. Der reicht vor allem zur Einordnung der Wirksamkeit aus. Die Basistherapie-Module der Adipositas – Ernährung, Ernährungsverhalten und körperliche Aktivität – sind klar einschätzbar. Wir wissen, dass die Wirksamkeit mit rund fünf Prozent Gewichtsreduktion begrenzt ist, mit kaum langfristigen Erfolgen. Die Verfahren der bariatrischen Chirurgie haben eine ausgeprägte Wirksamkeit: Eine Gewichtsreduktion bis in den Normalbereich wird regelmäßig erreicht, allerdings bei intensiver Nachbehandlung. Gleichzeitig sind die jährlichen Operationskapazitäten von derzeit um die 20.000 nicht skalierbar. Vor dem Hintergrund von mehr als zwei Millionen dringlich behandlungsbedürftigen Betroffenen und einer Verknappung von Fachärzten dürfte der Ausbau weder ethisch verantwortbar noch finanzierbar sein.

 

Univadis: Und was bringen die neuen Medikamente?

 

Nagels: Den Pharmatherapien kommt eine wachsende Bedeutung zu. Zum einen liegt das an der mangelnden Skalierbarkeit der wirksamen bariatrischen Verfahren bei hoher Behandlungsbedürftigkeit und Dringlichkeit angesichts der epidemiologischen Kennzahlen. Zum anderen zeigen die Ergebnisse klinischer Studien, dass mit den kausal ansetzenden, neuen Inkretinmimetika klinisch relevante Gewichtsverluste machbar werden. Diese waren mit den bisher verfügbaren Arzneimitteln so nicht erreichbar.

 

Univadis: Welche positiven Ergebnisse kann ein DMP Adipositas auf die Ausgabenentwicklung haben?

 

Nagels: Dass der Gemeinsame Bundesausschuss ein strukturiertes Behandlungsprogramm entwickelt, ist schon einmal ein Lichtblick und zeigt einen Wendepunkt in der Einordnung der Adipositas an. Das wird systemische Auswirkungen haben, die auch zu einer höheren Transparenz hinsichtlich der Grunderkrankung und ihren kausal verbundenen Folgeerkrankungen führen. Nach investitionsbedingten Ausgabensteigerungen werden wir mittel- bis langfristige Einsparungen bei direkten und indirekten Kosten durch strukturierte Behandlungsprogramme sehen.

 

Univadis: Wo genau?

 

Nagels: Einige Folgeerkrankungen sind zwar teilweise irreversibel, aber im Behandlungserfolg sinkt jedenfalls das Risiko für weitere Krankheitsverschlechterungen. Nehmen wir zum Beispiel die nicht alkoholische Fettleber mit Folgen wie entzündliche Lebererkrankung, Leber-Zirrhose, frühzeitiger Tod oder notwendige Lebertransplantation. Oder denken Sie an Diabetes mellitus Typ 2 und seine Komplikationen sowie Folgeerkrankungen. Hier können die Kausalketten ausgabenrelevant unterbrochen werden. Hinterlegt man die genannten Fakten, bekommt der bisherige Erkenntnisstand für die breite Versorgung eine neue Qualität. Das bedeutet auch, dass die durch das DMP getriggerte Transparenz den Stellenwert der Prävention deutlich steigern wird. Fakten erzeugen politischen Handlungsdruck in Richtung Prävention. Die Kosten der Unterlassung lassen sich dann beziffern. Wir können also auch indirekte DMP-Effekte erwarten, die sich auf die Ausgabenentwicklung langfristig positiv auswirken.

 

Zur Person

Prof. Klaus Nagels hat an der Uni Bayreuth den Lehrstuhl für Medizinmanagement und Versorgungsforschung inne. Der approbierte Apotheker und habilitierte Gesundheitsökonom hatte zuvor verschiedene Management- und Führungspositionen in der Gesundheitswirtschaft. Besonderen Wert legt der Universitätsprofessor auf die Verzahnung von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und praktischer Relevanz.