ADHS im Alter: Die häufigen psychiatrischen Begleiterkrankungen erhöhen den Therapiebedarf
- Dr. Angela Speth
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
ADHS assoziiert man spontan mit Kindern oder Jugendlichen, dabei dauert die Störung nicht selten bis ins Alter fort und geht dann oft mit psychiatrischen Erkrankungen einher. Trotz deutlicher Beeinträchtigungen im Privat- und Berufsleben erhalten viele ältere Menschen keine Therapie. Stimulanzien können die Symptome bei ihnen deutlich bessern, aber auch Nebenwirkungen hervorrufen, mit anderen Medikamenten interagieren oder körperliche Erkrankungen verschlechtern. Das ist wegen der verbreiteten Multimorbidität und Polypharmazie im Alter zu bedenken. Ein deutscher Psychiater plädiert deshalb dafür, für jeden einzelnen Patienten Vor- und Nachteile einer Medikation abzuwägen.
Ein Drittel bis die Hälfte der Kinder mit ADHS haben auch später noch klinisch relevante Symptome, informiert der Verein Pro Psychotherapie auf seiner Website. Allerdings sinkt die Prävalenz bei Erwachsenen über die Lebensspanne hinweg: Eine Studie aus Deutschland fand eine Häufigkeit von 3,1% in der Altersgruppe von 40 bis 59 und 2,1% in der Altersgruppe von 60 bis 80, berichten Dr. Peter Praus vom Pfalzklinikum in Klingenmünster und Kollegen [1]. Informationen bietet auch eine S3-Leitlinie, die Erwachsene einschließt (AWMF-Registernummer 028-045).
Dass ADHS erstmals in höherem Alter diagnostiziert werde, könne an einer Änderung der Lebensverhältnisse liegen wie einem Umzug in ein Heim, erläutert der Psychiater. Denn dadurch schrumpfen Handlungsspielräume, die notwendige Anpassung kann nicht erbracht werden, so dass sich die Frage nach der Ursache stellt. Oder zunehmende Behinderungen demaskieren die ADHS. Umgekehrt kann es mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben einfacher werden, die Störung zu kompensieren, weil viel Stress wegfällt.
Mangelnde Kontrolle von Gefühlen
Bei Erwachsenen äußern sich die Kernmerkmale - Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität - oft anders als in Kindheit und Jugend. Daher sind sie bei ihnen schwerer zu erkennen, zumal individuelle Unterschiede bestehen.
Erhalten bleibt meist die Konzentrationsschwäche. Sie zeigt sich in Flüchtigkeitsfehlern, Vergesslichkeit, sprunghaftem Denken oder Geistesabwesenheit. Typisch für Erwachsenen mit ADHS ist zudem: Sie reden viel, fallen anderen ins Wort, lassen sich zu unüberlegten Äußerungen oder Entscheidungen hinreißen, die sie später bereuen, etwa den Job kündigen oder eine Beziehung beenden. Hinzu kommen starke Gefühlsschwankungen, die zum Beispiel in Wutausbrüchen über Nichtigkeiten münden.
Hyperaktivität – ständig unter Strom
Die Hyperaktivität geht mit dem Alter häufig zurück, stattdessen bleiben Nervosität, Anspannung und Ungeduld. Es fällt diesen Menschen schwer, den Alltag zu strukturieren, Aufgaben planvoll anzugehen, bei Terminen pünktlich zu erscheinen und Ordnung zu halten.
Durch ihre Schwierigkeiten mangelt es ihnen oft an Selbstwertgefühl. Zur Bewältigung konsumieren viele Alkohol, Nikotin oder andere Drogen, was erklärt, warum etwa ein Drittel mit Suchtproblemen zu kämpfen hat, darunter Ess-, Kauf- oder Spielsucht. Das Risiko weiterer psychiatrischer Komorbiditäten ist ebenfalls deutlich erhöht: 40% haben Depressionen, 30% Angst- und 25% Schlafstörungen.
Außerdem kann ADHS von Legasthenie oder Rechenschwäche, Tic-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen sowie von ungünstigem Sozialverhalten begleitet sein. So ist zu erklären, warum ältere ADHS-Patienten gehäuft über zwischenmenschliche Konflikte und negative Lebensereignisse, über Einsamkeit und verminderte Lebensqualität klagen. Nur ungefähr ein Fünftel weist keine neuropsychologischen Probleme auf. Zudem leiden sie vermehrt an chronischen körperlichen Erkrankungen.
ADHS ist mit Neurodegeneration korreliert
Nach US-Daten erhöht eine schwere ADHS weiterhin deutlich das Risiko, innerhalb von zehn Jahren an einer Alzheimer- oder Lewy-Body-Demenz zu erkranken. In einer schwedischen Studie mit mehr als 3,5 Millionen Teilnehmern war bei jenen mit ADHS die Häufigkeit einer leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment, MCI) oder einer Demenz um das 3-Fache erhöht. Noch größere Werte ergaben sich, wenn zum Beispiel Sucht oder affektive Störungen hinzukamen.
Weiterhin liegen Daten vor, wonach erwachsene ADHS-Patienten um das 4-Fache häufiger an Parkinson und auch vermehrt an Störungen der Basalganglien und des Kleinhirns erkranken.
Es erscheint somit naheliegend, bei älteren Menschen mit ADHS Risikofaktoren für neurodegenerative Prozesse zu berücksichtigen. Dazu gehören Drogenkonsum, niedriger sozioökonomischer Status, psychiatrische Komorbidität oder psychosoziale Faktoren wie Isolation. Speziell bei Menschen über 70 schränken Begleiterkrankungen einer ADHS den Alltag wesentlich ein.
S3-Leitlinie erleichtert die Diagnose
Für die Diagnostik sind derzeit für deutschsprachige Patienten ab 60 Jahren nur die Homburger ADHS-Skalen validiert, die schnell, sensitiv und spezifisch die Symptome erfassen. Bewährt hat sich weiterhin die deutsche Kurzfassung der Conners’ Adult ADHD Rating Scales (CAARS).
Die Diagnose kann also nur gestellt werden, wenn sich nachweisen lässt, dass die Symptome schon in der Kindheit vorlagen. Weil Selbstberichte älterer Patienten anfällig sind für eine Erinnerungsverzerrung (recall bias), sollten Quellen wie Befundberichte, Schulzeugnisse und Angaben von Angehörigen in die Anamnese einfließen.
Abgrenzung von Demenz und Depression
Dabei ist es wichtig, ADHS von Prodromalsyndromen einer Demenz abzugrenzen. Allerdings sei eine klare Unterscheidung zwischen ADHS und MCI mit neuropsychologischen Tests bisher nicht möglich, so Praus und seine Mitarbeiter.
Weiterhin sollte bei der Diagnose "Altersdepression" überprüft werden, ob eventuell eine bislang unerkannte ADHS zugrunde liegt. Chronische statt episodischer Beschwerden, Begleiterkrankungen wie Drogenkonsum oder Persönlichkeitsmerkmale wie niedriger Selbstwert deuten darauf hin.
Therapie mit mehreren Komponenten
Einer Studie zufolge wird weit weniger als die Hälfte der älteren ADHS-Patienten behandelt. Es ist unklar, ob eine Unterversorgung besteht oder ob diese Menschen im Ruhestand nicht mehr so dringend eine Therapie benötigen.
Meist wird eine multimodale Behandlung angestrebt. Ein Baustein ist die Psychoedukation: Die Patienten werden über das Krankheitsbild aufgeklärt, was allein schon zur Bewältigung beiträgt.
Eine weitere Komponente ist die Psychotherapie, vor allem die kognitive Verhaltenstherapie. Dabei lernen sie, für sich zu sorgen und negative Denkmuster, auch über sich selbst, abzubauen. Sie erwerben soziale Kompetenzen und erarbeiten Strategien, mit Stress besser klarzukommen. Zwar sind diese Methoden für ältere Menschen noch nicht validiert, dennoch sollten sie ihnen allein schon wegen der häufigen psychiatrischen Komorbiditäten angeboten werden, empfiehlt das Team um Praus.
Achtsamkeitsbasierte Interventionen können leitliniengerecht mit einer Verhaltenstherapie kombiniert werden. Sport trägt Daten zufolge ebenfalls signifikant zur Reduktion von ADHS-Symptomen bei, hilfreich ist auch die Progressive Muskelentspannung.
Stimulanzien - unter Vorbehalten sinnvoll
Nach der aktuellen Leitlinie sind Medikamente bei Erwachsenen bereits bei leichten oder mittleren Symptomen ratsam, und erst recht bei schwerer Ausprägung. Jedoch sind in Deutschland Stimulanzien nur bis zum 60. Lebensjahr zugelassen, so dass bei noch älteren Menschen eine Verschreibung lediglich off-label möglich ist. Eine Stellungnahme des Zentralen ADHS-Netzes plädiert für einen solchen Einsatz von Methylphenidat oder Atomoxetin. Dabei legen Daten auch für diese Altersgruppe eine gute Verträglichkeit und Wirksamkeit nahe.
In der bislang größten retrospektiven Beobachtungsstudie zu Stimulanzien - meist retardiertes Methylphenidat oder Dexmethylphenidat - bei 55- bis 79-Jährigen sprachen 65% der 113 Teilnehmer überwiegend gut an. Konzentration, Schlaf und Alltagsbewältigung wurden besser, die Stimmung stabilisierte sich, die Impulsivität ließ nach.
Vorsicht bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Bei Patienten mit kardiovaskulären Risiken änderte sich mit Methylphenidat weder der Blutdruck noch die Herzfrequenz signifikant. Jedoch kam es vor, dass die Therapie wegen kardiovaskulärer Nebenwirkungen, Schlafstörungen, Angst und Depressivität abgebrochen werden musste.
Praus und seine Kollegen verweisen darauf, dass nur wenige Daten zur Pharmakologie von Stimulanzien bei älteren Menschen mit körperlichen Begleiterkrankungen vorliegen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit von Polypharmazie und damit Arznei-Interaktionen steigt. Auch Pharmakokinetik und -dynamik ändern sich.
In einer Tabelle sind Kontraindikationen für Stimulanzien im Alter zusammengestellt, darunter Glaukom, Prostatahyperplasie mit Restharnbildung, schwere Depression, Schizophrenie, Herz-Kreislauf- und zerebrovaskuläre Erkrankungen wie Aneurysmen oder Schlaganfall.
Daher raten die Autoren, den Augeninnendruck zur Glaukomprophylaxe regelmäßig bestimmen zu lassen, die Patienten über Chancen und Risiken einer Medikation im Alter aufzuklären und auf Komorbiditäten zu achten, möglichst in Abstimmung mit Fachärzten.
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