„Lauterbach betreibt praxisfeindliche Politik"

  • Lisa Braun
  • Medizinische Nachrichten
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Niedergelassene Ärzte kommen bei Minister Lauterbach „allenfalls am Rande vor", kritisiert die Kassenärztliche Vereinigung Hessen. Dabei sind die Herausforderungen, die ambulante medizinische Betreuung flächendeckend aufrecht zu erhalten, riesig, betont Hausarzt und KV-Vorstand Dr. Eckhard Starke im Interview mit Univadis. 

Univadis: Sie sorgen sich um die Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung in Hessen. Rund 350 Praxissitze können derzeit nicht mehr besetzt werden, und dieser negative Trend setzt sich fort. Welche Gründe sehen Sie dafür?

Starke: Die Gründe sind vielfältig. Zum einen fehlt es schlichtweg an Ärztinnen und Ärzten. Denn wie im Rest der Gesellschaft, wird auch für sie die Work-Life-Balance immer wichtiger. Die Gleichberechtigung und der verständliche Wunsch, nach einer qualifizierten Ausbildung auch im Beruf arbeiten zu wollen, führt u. a. dazu, dass in einer Partnerschaft die Aufgaben in der Familie gemeinsam zu gleichen Teilen erledigt werden müssen. Das wiederum erfordert eine verlässlichere Zeitplanung, die in selbstständiger Tätigkeit nicht immer möglich ist. Darüber hinaus benötigen junge Menschen vor der Entscheidung, selbstständig tätig sein zu wollen eine klare Perspektive, wie sich das Gesundheitssystem entwickeln wird. Die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre und die Fokussierung in der Öffentlichkeit auf die Krankenhäuser, lässt für die ambulante Versorgung eine klare Zukunftsperspektive vermissen. Dies erklärt einen Teil der mangelnden Bereitschaft, sich mit persönlichen Planungsrisiken selbstständig zu machen.

Univadis: In der Vertragsärzteschaft ist ein tiefsitzender Frust zu spüren. Abgesehen von den sehr gut gehenden, lukrativen Arztsitzen in Top-Lagen – die es ja auch gibt – sind vor allem die Praxen in der Fläche und in sozialen Brennpunkten am Anschlag. Bisher hat niemand ein Rezept dagegen. Sind mehr Geld und weniger Bürokratie die Lösung?

Starke: Eine Reduzierung der Bürokratie würde auf jeden Fall zu einer Lösung beitragen. Stattdessen ist der bürokratische Aufwand zuletzt jedoch immer größer geworden, leider auch durch digitale Entwicklungen wie die eAU oder das E-Rezept, was eigentlich für Erleichterungen sorgen sollte. Das verursacht nicht erst seit gestern Unmut bei Ärztinnen und Ärzten. Hinzu kommt derzeit noch eine praxisfeindliche Politik der Gesundheitspolitiker von SPD, FDP und Grünen sowie des GKV-Spitzenverbands. Da werden den Praxen durch den Wegfall der Neupatientenregelung hunderte Millionen Euro weggenommen und gleichzeitig ein Honorarplus für das kommende Jahr von gerade einmal zwei Prozent beschlossen. Das reicht nicht einmal, um die Gehälter der Praxismitarbeitenden angemessen zu erhöhen, geschweige denn, um die gestiegenen Energiekosten, mit denen die Praxen zu kämpfen haben, zu decken. Kurzum: Ein solches Gebaren und Praxis-Bashing ist gegenüber den Ärztinnen und Ärzten kein gutes Signal in Richtung derer, die zumindest einmal darüber nachdenken, sich möglicherweise niederzulassen. Ganz im Gegenteil. ,Das tun wir uns nicht an’ ist ein Satz, den wir so oder ähnlich immer öfter von Kolleginnen und Kollegen hören.

Univadis: Welche konkreten Forderungen haben Sie als KVH an die Politik?

Starke: Was die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen brauchen, ist Verlässlichkeit und eine sichere Zukunftsperspektive. Das ist, denke ich, nicht zu viel verlangt. Nehmen wir einmal die Neupatientenregelung. Herr Spahn hat diese – im Übrigen unterstützt von Herrn Lauterbach – im Rahmen des TSVG erst 2019 eingeführt. Die Praxen haben sich darauf eingestellt, teilweise Neueinstellungen vorgenommen. Jetzt, kaum drei Jahre später, kassiert Herr Lauterbach die Regelung wieder ein. So kann man nicht arbeiten. Solche Dinge müssen aufhören. Noch dazu fehlt jegliche Wertschätzung, nicht nur, aber auch finanziell. Die Niedergelassenen haben während der Coronapandemie rund 97 Prozent der infizierten Menschen versorgt und somit dem System den Rücken freigehalten. Als Dankeschön werden den Praxen durch die Streichung der Neupatientenregelung nun etwa 600 Millionen Euro Honorar weggenommen. Das geht so nicht. Wir fordern daher von der Politik ausdrücklich einen Kurswechsel.

Univadis: Halten Sie eine Strukturreform der ambulanten Versorgung für notwendig?

Starke: Ich glaube nicht, dass die ambulante Versorgung als solche umstrukturiert werden muss. Es sind vielmehr die Rahmenbedingungen, die sich vor dem Hintergrund fehlender Ärztinnen und Ärzte verändern müssen. Zunächst einmal benötigen wir deutlich mehr Mediziner als noch vor 15 oder 20 Jahren. Junge Kolleginnen und Kollegen arbeiten immer weniger in Einzelpraxen und präferieren zunehmend eine Anstellung, denn sie möchten Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Wir brauchen daher dringend mehr Studienplätze. Darüber hinaus muss die Infrastruktur im ländlichen Bereich verbessert werden. Es braucht Kindertagesstätten, Schulen, einen guten ÖPNV, Breitbandinternet, Arbeitsplätze für die Lebenspartner und vieles mehr, um die Standorte für Kolleginnen und Kollegen attraktiv zu machen. Und nicht zuletzt müssen sich Niedergelassene auf die Politik verlassen können.

Univadis: Wie wird sich die von Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach angekündigte Ambulantisierung im Rahmen der großen Krankenhausreform auf die vertragsärztliche Struktur auswirken?

Starke: Professor Lauterbach strebt für die Zukunft ganz offensichtlich ein Gesundheitssystem an, in dem Vertragsärzte und -psychotherapeuten kaum noch eine Rolle spielen. Stattdessen sollen Kliniken in den Mittelpunkt rücken. Das muss man nüchtern konstatieren. Die Entscheider müssen verantworten, dass damit ein bewährtes und vom Ausland beneidetes System ohne Not zerstört wird. An dieser Stelle ist den Patientinnen und Patienten, aber auch uns Niedergelassenen gegenüber, Ehrlichkeit gefragt. Denn das Szenario, das auf uns alle zukommt, wird geprägt sein von viel längeren Wartezeiten, von überfüllten Kliniken und deutlich weiteren Wegen. Nur sollte die Politik so fair sein, dies auch der Bevölkerung zu erklären. Wir werden uns, genau wie unsere Kolleginnen und Kollegen, mit allem, was wir haben, gegen diese falsche Weichenstellung wehren.

Univadis: Die KVH kritisiert Lauterbach scharf. Bestand das Problem mangelnden Interesses und Managements der Politik schon vor Lauterbachs Zeiten und was müsste dieser in Bezug auf die Ambulantisierung anders machen?

Starke: Der Bundesgesundheitsminister ist verantwortlich für die Versorgungssystematik kranker und präventiv zu behandelnder Menschen in der Gesellschaft. Wenn Herrn Lauterbach bei seinen öffentlichen Auftritten die ambulante Versorgung keine Erwähnung mehr wert ist und er die Bedeutung  von Hausärztinnen und Hausärzten allenfalls auf Veranstaltungen von Berufsverbänden beteuert, ist das eindeutig zu wenig. Die Wählerinnen und Wähler in Deutschland haben das Recht zu erfahren, wie die Versorgung zukünftig aussehen soll. Und zwar bevor Lösungen präsentiert werden, die das aktuelle System völlig zerstören. Insofern ist unsere Kritik an der aktuellen Gesundheitspolitik im Interesse der Patientinnen und Patienten, die unter der jetzigen politischen Strategie keinen selbstständig tätigen Haus- oder Facharzt mehr finden, keinen persönlichen Ansprechpartner, der auf ihre individuellen Wünsche und Sorgen eingeht. Und wenn schon Kommissionen eingerichtet werden, die den Minister beraten sollen, müssen auch diejenigen mit am Tisch sitzen, die über 90 Prozent der Menschen in Deutschland täglich behandeln.