Übersichtsstudie zu Serotonin und Depression: Experten bezweifeln Gültigkeit

  • Pauline Anderson
  • Medizinische Nachrichten
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Eine Gruppe von mehr als 30 Akademikern und Forschern aus den Bereichen Psychiatrie und Psychopharmakologie stellt die Schlussfolgerungen einer im letzten Jahr veröffentlichten Übersichtsarbeit in Frage: Diese kam zu dem Schluss, dass es keinen überzeugenden Beweis dafür gibt, dass Serotoninmangel die Hauptursache für Depressionen ist. Die Autoren des letztjährigen Artikels halten allerdings an ihrer Schlussfolgerung fest.

Scharfe Kritik der Kommentatoren

"Die Methodik entspricht nicht einer konventionellen Übersichtsarbeit", erklärte Dr. Sameer Jauhar, Dozent am Kings's College London. Er ist der Erstautor des Kommentars, der die Studie kritisiert, die online am 16. Juni in der Zeitschrift Molecular Psychiatry erschienen ist.

Auch der führende Psychiater David J. Nutt, MD, PhD, Edmond J. Safra Professor für Neuropsychopharmakologie am Imperial College London, Vereinigtes Königreich, fordert, dass die Studie zurückgezogen wird. In einem Interview mit der Daily Mail sagte er, der Artikel sei "voller Fehler, und er hätte gar nicht erst veröffentlicht werden dürfen. Dennoch wurde er häufig zitiert und die Menschen glauben, dass er wahr ist. Es ist im Wesentlichen eine Fehlinformation. Deshalb fordere ich die Zeitschrift auf, den Artikel zurückzuziehen". Nutt zählt ebenfalls zu den Autoren des veröffentlichten Kommentars.

"Keine überzeugenden Beweise"

In der kritisierten Untersuchung analysierten die Autoren unter der Federführung von Dr. Joanna Moncrieff, Professorin für klinische und soziale Psychiatrie am University College London, systematische Reviews und Meta-Analysen, um der Frage nachzugehen, ob ein niedriger Serotoninspiegel tatsächlich mit Depressionen in Verbindung steht.

Von 361 potenziellen Studien wurden 17 für die Untersuchung ausgewählt, darunter Meta-Analysen, systematische Übersichten und eine genetische Assoziationsstudie. Die Auswertung beinhaltet Untersuchungen von 5-HT und seinem Metaboliten 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) in "Körperflüssigkeiten", die Verfügbarkeit von 5HT1A-Rezeptor und Serotonin-Transporterprotein (SERT) in bildgebenden Verfahren und Postmortem-Studien, Untersuchungen von SERT-Gen-Polymorphismen, Wechselwirkungen zwischen SERT und Stress bei Depressionen und Auswirkungen von Tryptophanmangel auf die Stimmung.

Die Tryptophan-Hypothese besagt, dass Depressionen durch einen Mangel an Tryptophan entstehen, der die Verfügbarkeit von Serotonin verringert. Der Übersichtsarbeit zufolge zeigten zwei Crossover-Studien an Patienten mit Depressionen, die aktuell oder kürzlich mit Antidepressiva behandelt wurden, keine wesentlichen Auswirkungen der Abnahme. Außerdem zeigten die Daten aus Studien mit Freiwilligen im Wesentlichen ebenfalls keine Auswirkungen.

Letztendlich kamen Moncrieff und ihre Mitautoren zu dem Schluss, dass "es keine überzeugenden Beweise dafür gibt, dass Depressionen mit einer geringeren Serotoninkonzentration oder -aktivität zusammenhängen oder dadurch verursacht werden".

"Unkonventionelle, seltsame" Methodik

Jauhar und die Co-Autoren des Kommentars widersprechen jedoch dieser Schlussfolgerung der Studie. Die Forscher behaupten, dass "wir bei gesunden Freiwilligen keine Depressionssymptome sehen, wenn wir ihnen Tryptophan entziehen; jeder weiß das und teilt diese Meinung; nur bei Menschen, die anfällig für Depressionen sind, werden diese Symptome auftreten."

Außerdem sei bei der Schlussfolgerung der Studie nicht berücksichtigt worden, dass experimentelle medizinische Studien zum Tryptophan-Entzug schwierig durchzuführen sind. Jauhar findet es dazu "unkonventionell" und "seltsam", dass die Studie einzelne Studien zum Tryptophanmangel einschließt, die nicht im vorgegebenen Protokoll enthalten sind.

In Bezug auf Studien mit molekularer Bildgebung meinte Jauhar, dass die Schlussfolgerungen des Reviews "vereinfachend" seien und dass die Autoren der Studie "im Wesentlichen die Argumente so gestalten", dass sie in die von ihnen gewünschte Sichtweise passen. Er wies auch auf sachliche Fehler in dem Artikel hin. "Sie machen einen Fehler, wenn sie über die Bildgebung beim Serotonintransporter sprechen; sie sagen, dass es keine übereinstimmenden Ergebnisse zwischen den Studien gibt, obwohl das tatsächlich doch der Fall ist." Sowohl bei den Studien zum Tryptophan-Entzug als auch bei den Studien zur molekularen Bildgebung werden laut Jauhar die Ergebnisse der Originalstudien beschönigt.

In Bezug auf den Tryptophanmangel "wäre eine korrekte, konstruktive Schlussfolgerung, dass der akute Tryptophanmangel und das verringerte Tryptophan im Plasma bei Depressionen auf eine Rolle von 5-HT bei denjenigen hinweisen, die anfällig für Depressionen sind oder daran leiden, und dass die molekulare Bildgebung darauf hinweist, dass das System gestört ist", schreiben die Kommentatoren. "Die nachgewiesene Wirksamkeit von SSRIs bei einem Teil der Menschen mit Depressionen verleiht dieser Position Glaubwürdigkeit", fügen sie hinzu.

Jauhar bemängelte auch die Kriterien für die Sicherheit der Ergebnisse dieser und anderer Studien, die bei der Überprüfung verwendet wurden. "Wenn man die Kriterien selbst festlegt, ist das willkürlich".

Keine neuen Daten

Ein Übersichtsbericht sollte von höchster Qualität sein und beinhalten, "dass man die Studien herausgreift und sie selbst analysiert", aber hier "haben sie nur eine Synthese der Berichte anderer Leute vorgelegt, also gibt es im Grunde keine neuen Daten", so Jauhar.

Und manchmal weichen seiner Meinung nach die Ergebnisse der Studie von denen der ursprünglichen Forschung ab. "Wenn Leute, die nicht selbst geforscht haben, die Arbeit anderer zitieren und dann ignorieren, was diese Leute sagen, sind wir alle in Schwierigkeiten", so Jauhar.

In einem weiteren Kommentar, der ebenfalls in der Zeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlicht wurde, kritisierte auch Jacob Pade Ramsøe Jacobsen, Evecxia Therapeutics, Inc, Durham, North Carolina, den Bericht von Moncrieff und Kollegen. Die Autoren scheinen mit der Biologie und Pharmakologie von Serotonin nicht vertraut zu sein, schreibt Jacobsen.

"Der Bericht enthält sachliche Fehler, zieht Schlussfolgerungen, die von der Serotonin-Neurobiologie nicht unbedingt gestützt werden, und zitiert die herangezogene Fachliteratur in selektiver Weise", fügt er hinzu. "Am meisten beunruhigend ist, dass einige der überprüften Daten falsch interpretiert werden und die Vermutung geäußert wird, dass Antidepressiva mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, z. B. SSRI, die Serotoninfunktion eher verringern als erhöhen.

Wenn die Schlussfolgerungen des Berichts von Allgemeinmedizinern und der Öffentlichkeit akzeptiert werden, "könnte dies zu einem geringeren Einsatz von Antidepressiva bei bedürftigen Patienten und zu einer erhöhten Morbidität im Zusammenhang mit Depressionen führen."

Moncrieff kontert

Als Reaktion auf die Flut von Kritik an ihrer Studie erklärte Moncrieff, dass sie zu dem Bericht stehe. Sie fügte hinzu, dass Jauhar und andere "die Katze nicht aus dem Sack lassen" wollten, dass es keine guten Beweise für die Hypothese gebe, dass ein niedriger Serotoninspiegel Depressionen verursache. Denn das stelle den Einsatz von Antidepressiva infrage.

"Die Vorstellung, dass Antidepressiva wirken, indem sie ein zugrunde liegendes chemisches Ungleichgewicht oder eine Serotonin-Anomalie korrigieren, hat die Forschung in eine Sackgasse geführt. Sie bedeutet, dass die Wissenschaftler die schädlichen Auswirkungen dieser Medikamente nicht ernst genug genommen haben.“

Die Kritiker, so fügte sie hinzu, "wollen, dass alles beim Alten bleibt - was bedeutet, dass die Menschen weiterhin falsch informiert werden und schädlichen Wirkungen von Medikamenten ausgesetzt sind, deren Nutzen minimal und ungewiss ist."

In einem Brief an den Herausgeber der Zeitschrift Molecular Psychiatry behaupten Moncrieff und ihre Mitautoren, dass sie für die Übersichtsarbeit anerkannte und gut akzeptierte Methoden verwendet haben, einschließlich der Vorregistrierung des Protokolls und der Anwendung empfohlener Suchmethoden und Qualitätsbewertungen. Sie hätten auch nicht bestimmte Studien übersehen, wie behauptet wurde.

In ihrem Blog schreibt Moncrieff, dass die "marginalen Unterschiede zwischen Antidepressiva und Placebo, die sich in klinischen Studien zeigen, wahrscheinlich durch andere, plausiblere Mechanismen wie die emotional abstumpfende Wirkung der Medikamente oder durch verstärkte Placeboeffekte hervorgerufen werden, und nicht durch das gezielte Ansprechen zugrundeliegender biologischer Mechanismen (da diese nicht nachgewiesen wurden)." Sie unterstreicht auch, "dass wir nicht genau wissen, was Antidepressiva im Gehirn anrichten, was Anlass zur Sorge gibt."

Dieser Beitrag erschien im Original bei Medscape und wurde von Dr. Petra Kittner übersetzt.